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Reiner Text
Ewald
22. Februar 1937
Meine Lieben!
... Der Inhalt Eures Briefes hat mich zufrieden gestellt. Wenn sich auch die Zensur seiner etwas angenommen hat, so entnehme ich ihm doch immerhin, dass meine Befürchtungen wegen Vaters Pessimismus unbegründet sind und dass wir im Allgemeinen übereinstimmen. Dass Dich die Dinge schon mal hart mitnehmen, lieber Vater, kann ich verstehen. Aber es hat ja auch keinen Zweck, dass ich Euch etwas vormache, nicht wahr? Und außerdem wie vielen geht es nicht ebenso? Ich freue mich jedenfalls sehr, dass wenigstens Otto in den nächsten Wochen wieder bei Euch sein wird.
Dass Du, lieber Kurt, mir einmal etwas aus Deinem „struggle for life“ mitgeteilt hast, ist sehr nett. Ich wünsche Dir recht viel geschäftlichen Erfolg bis zur nächsten Pleite. Dann übersende ich Dir noch feierlichst meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstag; ich wollte das bereits im vorigen Brief tun, aber da hat mich die beschädigte Feder zu sehr abgelenkt. Übrigens habe ich heute wieder einmal das „Vergnügen“, diesen Kampf mit der Tücke des Objekts zu bestehen.
Meinen besten Dank für die übermittelten Grüße von Freunden und Bekannten. Die besonders herzlichen Grüße erwidere ich ebenso herzlichst. Leider sind die Namen im Brief unleserlich gemacht worden, so dass ich also nicht weiß, von wem die Grüße kommen. Das ist sehr schade – wenn man gegrüßt wird, möchte man ja auch gerne wissen, von wem. Aber da, „kamma holt nix machen“! Und wenn ich die Einbildung spielen lassen will, dann führt das vielleicht zu sehr ins Illusionäre. Trotzdem – grüße herzlichst zurück.
Jetzt geht es ja mächtig in den Frühling rein; es wird morgens schon hell, wenn ich aufstehe. Das dürfte so gegen 6 Uhr sein. Ich bin ein Frühaufsteher geworden, wie? Übrigens habe ich das nicht erst hier gelernt, das übe ich jetzt schon einige Jahre. Und hier stehe ich sogar mit Vergnügen um 6 Uhr auf, denn wenn man abends um 7 Uhr ins Bett steigt, hat man morgens wirklich die Nase voll. Wie ich mir meinen Tag einrichte? Als erstes einige gymnastische Übungen, damit ich nicht einroste, dann Zelle auskehren, waschen, Bett hoch. Gegen 7 Uhr kommt schon meine Zeitung, der „Völk. Beobachter“. Die erhalte ich sozusagen zum Frühstück, genau wie der Herr Kommerzienrat. Nur das Frühstück selbst ist unterschiedlich. Meins besteht aus einem Liter „Bliemchen“, in das ich mein Brot brocke. Wenn ich dann die Zeitung studiert habe, mache ich meinen „Morgenspaziergang“, d. h., ich bewege mich eine Stunde lang 5 Schritt auf und 5 ½ Schritt ab in meiner Wohnung. Da ich aber glücklicherweise die Gabe habe, mich vollständig in meine Gedanken zu versenken, gerät diese räumliche Begrenzung in Vergessenheit – ich empfinde sie für diese Zeit nicht. Dann bis Mittag französische Grammatik. Nach dem Essen wieder „Spaziergang“ und Lesen (englische und wissenschaftliche Literatur). Und so vergehen die Tage. Freitags spiele ich Scheuerfrau in meiner Zelle.
Nun ja – ein tätigeres Leben außerhalb dieser Mauer wäre schöner. Und das kommt ja wohl auch einmal wieder.
Nächste Woche habe ich einen Tag vor mir, der mir das Herz bitter macht. Aber darüber kann ich Euch ja nichts schreiben, und es geht ja auch vorüber. Es muss ja so vieles vorübergehen!
Nun, liebe Mutter, lieber Vater und Kurt, seid herzlichst gegrüßt, und grüßt auch Otto, wenn er inzwischen ankommen sollte.
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