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Reiner Text
Janusz Pogonowski
November 1942
Soweit ich mich an meine Kindheit und an die letzten Jahre vor dem Krieg erinnern kann, kenne ich keinen so schönen Tag für Allerheiligen. Wenn ich mich gut erinnere, dann waren das herbstliche, umso mehr traurige Tage oder die ersten Tage des Frostes oder des Winters. Ich erinnere mich mit Rührung an die Momente, die ich im Kreis meiner Nächsten verbrachte. Die Tradition gebot es, an diesem Tag zum Friedhof, an die Gräber der uns nahestehenden Menschen zu gehen, die uns verlassen hatten. Gewöhnlich war der Friedhof an diesem Tag schön geschmückt, es gab auch sehr reich, geradezu luxuriös geschmückte Gräber. Die waren zweifelsfrei schön für das Auge, aber man sah auch sehr einfache Gräber. Mehrere Blumensträuße oder ein kleiner Strauß Vergissmeinnicht. Jeder konnte wie er wollte gewissermaßen denen, die hinweggegangen waren, sagen, dass, obwohl sie nicht mehr unter den Lebenden weilen, ihr Andenken nicht ausgelöscht ist.
Aber was ist mir hier geblieben. Ich bin eingesperrt in diesen Mauern. Ich kann nicht an das Grab meiner Mutter gehen, und ich möchte doch so gern wenigstens eine Blume an ihrem Grab niederlegen. Und einen Augenblick niederknien, um für ihre Seele zu beten und nachzudenken und mich daran zu erinnern, wie sehr sie bemüht war, uns zu Menschen zu erziehen. Und auch hier tat ich das, und so hell und lebendig standen mir meine Kindheit, die Schulzeit, die so sorglosen, schönsten Augenblicke vor Augen. Jetzt werfe ich mir vor, dass ich diese Augenblicke nicht zu würdigen verstand und immer wieder mit unnötig schlechtem Verhalten die Ruhe störte, die in unserem familiären Heim hätte herrschen können. Immer wieder brachte ich den Vater, die Mutter oder den Bruder nur durch meine Dummheit und Ignoranz dessen, was für mich der heimische Herd ist, an den Rand der Verzweiflung. Ich war mir nicht klar darüber, dass mich in meinem Leben schlimmere Momente erwarten könnten, und dass ich mich erst dann nach dem Heim, nach den Nächsten sehnen würde.
Und leider hat das der Herrgott zugelassen. Der heimische Herd erlosch. Ich blieb allein, von Vater und Bruder getrennt. Ich fand mich in einer mir völlig fremden Welt wieder. Allein zwischen fremden Menschen, stetig von den deutschen Henkern misshandelt, auf Schritt und Tritt erniedrigt, und obwohl die Seele im Inneren kocht, muss ich nach außen hin meine Demut und Gehorsamkeit zeigen.
Es fiel schwer, den Eltern zu gehorchen, und meist widersetzte man sich ihren Anordnungen, und hier, unter der Peitsche, muss ich gehorsam sein. Lange Zeit habe ich über diese Sachen nicht nachgedacht, aber jetzt ist für mich eine Zeit gekommen, in der ich erst einmal lerne zu leben. Ich beginne Gut und Böse zu begreifen. Ich unterscheide Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.
Hier, wo ich jeden Augenblick darauf vorbereitet sein muss, für immer fortzugehen, umzukommen, empfand ich das Bedürfnis, über mich und meine Verhalten nachzudenken. Ich will nicht überheblich sein, aber wenigstens jetzt kann ich jedem mutig in die Augen sehen, und niemand kann mir in meinem Verhalten etwas vorwerfen. Ich bemühe mich, mit Menschen so gut wie möglich zusammenzuleben, niemandem auch nicht den geringsten Verdruss zu bereiten oder Schaden zuzufügen, ich verhalte mich zu den Menschen offen und ehrlich. Nicht selten erfahre ich vielleicht aus diesem Grund Gemeinheiten, aber ich bin vollauf zufrieden meinem Verhalten.
Während meines Aufenthaltes hier im Lager war ich lange Zeit leer. Das kam vielleicht daher, dass ich ständig hungrig war und dabei sehr schwer arbeiten musste. Deshalb waren meine Gedanken ständig darauf ausgerichtet, etwas Essbares zu ergattern oder jede freie Minute zum Ausruhen zu nutzen. So war es tatsächlich, ich war derart mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt, dass ich vielleicht sogar nicht mehr an die Familie und an die Arbeit an meiner Seele dachte. Doch nach zwei Jahren des Herumsitzens überkam mich der Moment, an dem ich sehr unzufrieden war mit meiner seelischen Verfassung.
Ich dachte darüber nach, dass ich vielleicht doch irgendwann die Freiheit erlebe, und dann müsste man doch irgendetwas tun. Wenn Gott es will und Er unser Leid wieder in normalere Bahnen lenkt, kann ich nicht von Vater erwarten, dass er meine Erziehung, meine Ausbildung bezahlt, sondern dann habe ich die Pflicht zu helfen und ihn von seiner schweren beruflichen Arbeit zu befreien. Denn nach so vielen Jahren moralischer und körperlicher Strapazen und Mühen verdient er seine Ruhe. Ich muss meine Schuld Dankbarkeit begleichen dafür, dass er mich erzog und bemüht war, mir alles zu geben, dafür, dass ich eine leichte und sorglose Jugend hatte.
Wenn wir manchmal mit den Kollegen darüber sprechen, was uns vielleicht erwarten könnte, das heißt – in der Freiheit, entstehen verschiedene Projekte für die Zukunft. Die einen wollen in aller Ruhe auf einem abgelegenen Dorf wohnen, möglichst weit weg von Menschenmassen, und dort, abgeschieden vom Lärm und der Hektik der Großstadt, den Rest ihres Lebens verbringen. Andere wollen das Leben genießen, Tag und Nacht feiern, trinken ohne Unterlass und keine Sorgen und Probleme haben. Es gibt viele, die aufgehört haben an Gott daran zu glauben, dass es irgendjemanden gibt, der unser Leben lenkt, und ihnen ist alles ganz egal, für einen solchen Menschen ist es geradezu eine Kleinigkeit, einen anderen Menschen umzubringen.
Ich wünsche mir, nach Wiedergewinnung der Freiheit zum Ruhm Gottes, für Ehre und Vaterland zu arbeiten. Und so scheint mir, dass ich heute vor meiner Mutter stehen, Ihr in die Augen sehen und Ihr sagen könnte: bisher habe ich mich tapfer geschlagen und ich falle nicht, ich lebe nach den Grundsätzen, die ich von Zuhause mitbekommen habe, nach denen ich erzogen wurde. Ich arbeite an mir und mache ständig Fortschritte. Gibt man nur einmal auf, dann ist es schwer, umzukehren.
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