An die Nachwelt

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1. September 1944
Abel J. Herzberg
Und es ward Abend und es ward Morgen: das sechste Jahr des Weltkrieges. Die Tage ziehen vorbei, die Wochen fliegen vorüber und reihen sich zu Monaten, zu Jahren, unser Leben vergeht. Eine neue Generation wächst derweil heran. [...] So könnte man auf den Gedanken kommen, dass das Bewusstsein der Geschichte – das heißt der Unabsehbarkeit des menschlichen Lebens – die Verbesserung der Welt sowohl fordert als auch behindert. Wir arbeiten immer für die Zukunft. Wir arbeiten ewig für die Zukunft. Doch wann ist die Zukunft denn endlich an der Reihe? Wir erziehen. Stets wollen wir wieder eine bessere nächste Generation. Wann ist diese Generation da? Wann ist das Ideal erreicht, so dass eine zufriedene Generation kommt, die keine “bessere“ Generation mehr haben möchte? Unsere Antwort: Nie. Wir haben Zeit. Wir sind leider ewig, immer kommt nach der einen Generation eine neue Generation, einem Gebirge gleich, wo eine Gebirgskette der nächsten folgt. [...] Doch in der Zwischenzeit wird es Abend und wird es Morgen. Und es wird wohl wieder einmal Friede kommen und danach wieder Krieg. Und Menschen wie wir, Menschen, die wegen Vergehen verurteilt werden, die sie nicht begangen haben, die verfolgt werden und unschuldig sind, die einander ansehen und – wie wir auch übereinander denken mögen – einander doch unschuldig wissen, wir, die wir mitsamt Frauen und Kindern bestraft werden, Tag für Tag, von Menschen, denen wir nur mit verschwiegener Verachtung antworten können, wir, die wir ihre Vergehen kennen, ihre maßlose Schuld, ihre Zügellosigkeit, und die wir entdeckt haben, wie sehr sie jede menschliche Verantwortung in unserem Sinne verworfen haben, wir, die wir für sie leiden, wir, auf die abgewälzt wird, wofür sie verantwortlich sind, wir, die alles dessen bezichtigt werden, was in ihrer verbrecherischen Absicht beschlossen liegt, die wir angeblich alles wollen, was sie ausführen, die angeblich allem nachstreben, was sie erreichen wollen, wir, auf die alle Schlechtigkeit des Mutwilligen übertragen wird und die für das bluten, was sie verbrochen haben, wir, die wir das aus unserer Geschichte kennen, auch von Generation zu Generation, wir ewiger Sündenbock, totgequälter Menschenbruder, der mit dem Kainszeichen des Brudermörders gezeichnet ist, wir sind nicht einmal mit der Illusion des Horizontes zufrieden – wir wollen auch wissen, was dahinter liegt, wie ein Kind, das an der See steht und fragt: Woher kommen die Wellen?
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Reiner Text
Abel J. Herzberg 1. September 1944 Und es ward Abend und es ward Morgen: das sechste Jahr des Weltkrieges. Die Tage ziehen vorbei, die Wochen fliegen vorüber und reihen sich zu Monaten, zu Jahren, unser Leben vergeht. Eine neue Generation wächst derweil heran. [...] So könnte man auf den Gedanken kommen, dass das Bewusstsein der Geschichte – das heißt der Unabsehbarkeit des menschlichen Lebens – die Verbesserung der Welt sowohl fordert als auch behindert. Wir arbeiten immer für die Zukunft. Wir arbeiten ewig für die Zukunft. Doch wann ist die Zukunft denn endlich an der Reihe? Wir erziehen. Stets wollen wir wieder eine bessere nächste Generation. Wann ist diese Generation da? Wann ist das Ideal erreicht, so dass eine zufriedene Generation kommt, die keine “bessere“ Generation mehr haben möchte? Unsere Antwort: Nie. Wir haben Zeit. Wir sind leider ewig, immer kommt nach der einen Generation eine neue Generation, einem Gebirge gleich, wo eine Gebirgskette der nächsten folgt. [...] Doch in der Zwischenzeit wird es Abend und wird es Morgen. Und es wird wohl wieder einmal Friede kommen und danach wieder Krieg. Und Menschen wie wir, Menschen, die wegen Vergehen verurteilt werden, die sie nicht begangen haben, die verfolgt werden und unschuldig sind, die einander ansehen und – wie wir auch übereinander denken mögen – einander doch unschuldig wissen, wir, die wir mitsamt Frauen und Kindern bestraft werden, Tag für Tag, von Menschen, denen wir nur mit verschwiegener Verachtung antworten können, wir, die wir ihre Vergehen kennen, ihre maßlose Schuld, ihre Zügellosigkeit, und die wir entdeckt haben, wie sehr sie jede menschliche Verantwortung in unserem Sinne verworfen haben, wir, die wir für sie leiden, wir, auf die abgewälzt wird, wofür sie verantwortlich sind, wir, die alles dessen bezichtigt werden, was in ihrer verbrecherischen Absicht beschlossen liegt, die wir angeblich alles wollen, was sie ausführen, die angeblich allem nachstreben, was sie erreichen wollen, wir, auf die alle Schlechtigkeit des Mutwilligen übertragen wird und die für das bluten, was sie verbrochen haben, wir, die wir das aus unserer Geschichte kennen, auch von Generation zu Generation, wir ewiger Sündenbock, totgequälter Menschenbruder, der mit dem Kainszeichen des Brudermörders gezeichnet ist, wir sind nicht einmal mit der Illusion des Horizontes zufrieden – wir wollen auch wissen, was dahinter liegt, wie ein Kind, das an der See steht und fragt: Woher kommen die Wellen?
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