An die Nachwelt

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14. August 1944
Abel J. Herzberg
Manchmal glaubt man auch, dass man wer weiß wie wichtige Normen aufgestellt habe, nach denen man dann Menschen beurteilt, oder dass man einen ungemein wichtigen Maßstab für ihren Wert oder ihre Wertlosigkeit gefunden habe; und man merkt dann überhaupt nicht, daß man nur mit Nichtigkeiten beschäftigt ist, dass man gefangen ist in der Bewertung von Besonderheiten von lediglich zweitrangiger Bedeutung. [...] Wie viele Bücher wurden nicht über das Essen geschrieben, wie viele erhabene Geister haben nicht ihr ästhetisches Haupt mit der Frage gequält, ob man aus der Art und Weise, wie jemand sein Brot oder sein Fleisch schneidet, sich die Stücke in den Mund schiebt, kaut oder schluckt – und aus mehr solcher Details –, Schlussfolgerungen über sein Wesen ziehen könne. [...] War man hier, hat man, so fürchte ich, auf ewig das Gefühl bekommen, dass dies alles lediglich zu unserer „Zivilisation“ gehört, das heißt zur Konvention, die unsere Gesellschaft aufgestellt hat, und damit im Grunde zur Lüge. Denn wozu wurde die Konvention aufgestellt? Um das Leben angenehmer, schöner, erträglicher zu machen? Wahrscheinlich schon, doch heißt dies etwas anderes, als dass man verdecken will, wie der Mensch eigentlich ist, dass man seine Nacktheit scheut? Auch unsere Kleidung tragen wir nicht nur, weil uns kalt ist, sondern auch, um etwas vorzutäuschen, das es nicht gibt, und etwas zu verbergen, das es sehr wohl gibt. Und oft genug wurde das Verbergen selbst zu einer wahren Kunst und ist der Sinn des Verbergens, gerade das, was man verbirgt, anzudeuten oder zu akzentuieren. Welch eine Raffinesse weiß der Mensch dabei zur Schau zu stellen. Hier nicht. Hier gibt es keine Zivilisation mehr und damit auch keine Raffinesse. In Hinblick auf das Essen bedeutet dies: Hunger ist auf der einen Seite des Körpers, also auf der Innenseite, Futter ist außerhalb. Das Problem ist nun: Wie kommt das Futter in den Magen? Das ist alles.
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Abel J. Herzberg 14. August 1944 Manchmal glaubt man auch, dass man wer weiß wie wichtige Normen aufgestellt habe, nach denen man dann Menschen beurteilt, oder dass man einen ungemein wichtigen Maßstab für ihren Wert oder ihre Wertlosigkeit gefunden habe; und man merkt dann überhaupt nicht, daß man nur mit Nichtigkeiten beschäftigt ist, dass man gefangen ist in der Bewertung von Besonderheiten von lediglich zweitrangiger Bedeutung. [...] Wie viele Bücher wurden nicht über das Essen geschrieben, wie viele erhabene Geister haben nicht ihr ästhetisches Haupt mit der Frage gequält, ob man aus der Art und Weise, wie jemand sein Brot oder sein Fleisch schneidet, sich die Stücke in den Mund schiebt, kaut oder schluckt – und aus mehr solcher Details –, Schlussfolgerungen über sein Wesen ziehen könne. [...] War man hier, hat man, so fürchte ich, auf ewig das Gefühl bekommen, dass dies alles lediglich zu unserer „Zivilisation“ gehört, das heißt zur Konvention, die unsere Gesellschaft aufgestellt hat, und damit im Grunde zur Lüge. Denn wozu wurde die Konvention aufgestellt? Um das Leben angenehmer, schöner, erträglicher zu machen? Wahrscheinlich schon, doch heißt dies etwas anderes, als dass man verdecken will, wie der Mensch eigentlich ist, dass man seine Nacktheit scheut? Auch unsere Kleidung tragen wir nicht nur, weil uns kalt ist, sondern auch, um etwas vorzutäuschen, das es nicht gibt, und etwas zu verbergen, das es sehr wohl gibt. Und oft genug wurde das Verbergen selbst zu einer wahren Kunst und ist der Sinn des Verbergens, gerade das, was man verbirgt, anzudeuten oder zu akzentuieren. Welch eine Raffinesse weiß der Mensch dabei zur Schau zu stellen. Hier nicht. Hier gibt es keine Zivilisation mehr und damit auch keine Raffinesse. In Hinblick auf das Essen bedeutet dies: Hunger ist auf der einen Seite des Körpers, also auf der Innenseite, Futter ist außerhalb. Das Problem ist nun: Wie kommt das Futter in den Magen? Das ist alles.
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