An die Nachwelt

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[undatiert]
Ana Novac
In unserem neuen Lager sind wir in Quarantäne. So kann ich wenigstens meinen Reisebericht beenden. Ich muss mich beeilen, der neue Stoff schwillt gefährlich an. Und es gelingt mir nur mit Mühe, die Tagesereignisse zu verscheuchen, die mich bedrängen: den Zählappell, meine Bettnachbarinnen, die Tatsache, dass ich heute morgen über einen Totenschädel gestolpert bin. Dieses Lager befindet sich nämlich auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof – bald rutscht man auf einer Rippe, bald auf einem Schienbein aus. Einmal bin ich auf ein vollständiges Gebiss gestoßen. Man gewöhnt sich daran wie an den Staub und den Schlamm, man tritt darauf oder stößt es mit dem Fuß beiseite. Die arme Seele, deren Gebeine unter unseren Schritten knacken, wird uns hoffentlich verzeihen. Würde sie an unserer Stelle etwas anderes tun? [...] Ich habe vergessen, von den Kapos zu sprechen. Ein Mann mit Armbinde vor jeder Reihe und drei oder vier, die sich mitten auf dem Platz frei bewegen. Mit überdrüssiger Miene schlendern sie umher und spielen mit ihrer Peitsche, während die untergeordneten Kapos vor lauter Zählen schwitzen. Sie sind die Ranghöchsten unter den Häftlingen, abgesehen von der Lagerältesten. Die Lagerälteste! Man stelle sich ein Huhn vor, das zur Hälfte gerupft, zur Hälfte platinblond ist. Wenn sie sich umdreht, erblickt man mit Entsetzen das Gesicht einer alten Äffin, traurig und stark geschminkt. Oft bricht sie in einsames Gelächter aus, bei dem uns das Blut in den Adern stockt. Will sie sich damit selbst aufmuntern? Oder ihr makelloses Gebiss zur Geltung bringen? Diese Janusköpfige, halb Affe, halb Huhn, die wohl irgendeine Kinderkrankheit daran gehindert hat, eine normale Größe zu erreichen, ist jedoch imstande, sich bei den Deutschen unterzuhaken, dank sehr hohen Absätzen, die es ihr ermöglichen, den Ellbogen eines durchschnittlichen Fritzen zu erreichen. Die einen meinen, sie sei Halbjüdin, die anderen sie sei Vierteljüdin. Es heißt, sie habe den Kommandanten in der Tasche und ihre überschäumende Heiterkeit gehe mit einer erfinderischen und unersättlichen Grausamkeit einher. Aber wie soll jemand mit so einem Äußeren denn sanft und rechtschaffen sein? Die Zwergin und das Lager. Sind sie nicht wie geschaffen, gemeinsam zu gedeihen – wie zwei Geschwüre ein und derselben Krankheit? [...] Es geschah beim Appell. Die Zahl stimmte nicht. Wir waren an die zehnmal durchgezählt worden. Haben wir Minuten, Stunden gewartet? (Vielleicht gibt es im Schrecken nur Jahrhunderte.) Die Zwergin trampelte auf ihren hohen Absätzen. Ganz allein in der Mitte des riesigen Platzes schwang sie hin und her wie eine entnervte Glocke. Eine fehlte. Sie wurde auf ihrem Strohsack schlafend in einer der Baracken gefunden. Die Hände auf dem Rücken, umkreist die Zwergin die Unglückliche, die sich, kaum wach und dösig, ihrerseits um diese herumdreht. Schließlich bleibt die Polakkin stehen, winkt Otto, einen Lagerkapo, herbei. In diesem Augenblick tritt vollständige Stille ein, als hielten Tausende von Leuten gleichzeitig den Atem an, und mir wird klar, dass das Mädchen verloren ist. Ihr selbst aber nicht. Sie sieht die verkrüppelte Person vertrauensvoll an, als wollte sie sagen: Ich kann nichts dafür, ich habe doch nur geschlafen. Otto – ich habe ihn beim Appell kennengelernt – ist Deutscher und vor dem Krieg als Schwerverbrecher zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ein Goliath, Bürstenschnitt, fett, rosiger Teint voll Sommersprossen (sogar seine große, dicke Hand ist davon übersät). Er winkt das Mädchen heran und befiehlt ihm, die Hände auszustrecken. Folgsam wie in der Schule gehorcht sie. Die Peitsche saust zweimal nieder, sie stöhnt, bleibt aber stehen. „Zieh dich aus!“. Die blutenden Finger versuchen, den weißen Kittel aufzuknöpfen, haben aber nicht die Kraft dazu. Otto reißt ihn ihr vom Leib. Er zieht seine Lederjacke aus, legt sie sorgfältig gefaltet auf den Boden. Diese sorgsame, bedächtige Art, seinen Mord vorzubereiten, erschüttert mich mehr als alles Folgende. Zum Glück wird sie fast sofort ohnmächtig. Otto schlägt weiter zu, bis ihm die Luft ausgeht. Er ist schweißgebadet, sein Hemd klebt ihm auf der Haut. Das, worauf er schlägt, ist nur noch ein Ding. Nach getaner Arbeit tobt er aus schierem Vergnügen weiter. Er mag das. Schließlich wird er von der Zwergin gestoppt. Sie beugt sich über den Körper, hebt den Kopf mit der Spitze ihres Absatzes an. Otto wischt sich die Stirn. Diejenige, die aufgehört hat, eine Nummer zu sein, wird weggebracht. Der Appell geht weiter.
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Ana Novac [undatiert] In unserem neuen Lager sind wir in Quarantäne. So kann ich wenigstens meinen Reisebericht beenden. Ich muss mich beeilen, der neue Stoff schwillt gefährlich an. Und es gelingt mir nur mit Mühe, die Tagesereignisse zu verscheuchen, die mich bedrängen: den Zählappell, meine Bettnachbarinnen, die Tatsache, dass ich heute morgen über einen Totenschädel gestolpert bin. Dieses Lager befindet sich nämlich auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof – bald rutscht man auf einer Rippe, bald auf einem Schienbein aus. Einmal bin ich auf ein vollständiges Gebiss gestoßen. Man gewöhnt sich daran wie an den Staub und den Schlamm, man tritt darauf oder stößt es mit dem Fuß beiseite. Die arme Seele, deren Gebeine unter unseren Schritten knacken, wird uns hoffentlich verzeihen. Würde sie an unserer Stelle etwas anderes tun? [...] Ich habe vergessen, von den Kapos zu sprechen. Ein Mann mit Armbinde vor jeder Reihe und drei oder vier, die sich mitten auf dem Platz frei bewegen. Mit überdrüssiger Miene schlendern sie umher und spielen mit ihrer Peitsche, während die untergeordneten Kapos vor lauter Zählen schwitzen. Sie sind die Ranghöchsten unter den Häftlingen, abgesehen von der Lagerältesten. Die Lagerälteste! Man stelle sich ein Huhn vor, das zur Hälfte gerupft, zur Hälfte platinblond ist. Wenn sie sich umdreht, erblickt man mit Entsetzen das Gesicht einer alten Äffin, traurig und stark geschminkt. Oft bricht sie in einsames Gelächter aus, bei dem uns das Blut in den Adern stockt. Will sie sich damit selbst aufmuntern? Oder ihr makelloses Gebiss zur Geltung bringen? Diese Janusköpfige, halb Affe, halb Huhn, die wohl irgendeine Kinderkrankheit daran gehindert hat, eine normale Größe zu erreichen, ist jedoch imstande, sich bei den Deutschen unterzuhaken, dank sehr hohen Absätzen, die es ihr ermöglichen, den Ellbogen eines durchschnittlichen Fritzen zu erreichen. Die einen meinen, sie sei Halbjüdin, die anderen sie sei Vierteljüdin. Es heißt, sie habe den Kommandanten in der Tasche und ihre überschäumende Heiterkeit gehe mit einer erfinderischen und unersättlichen Grausamkeit einher. Aber wie soll jemand mit so einem Äußeren denn sanft und rechtschaffen sein? Die Zwergin und das Lager. Sind sie nicht wie geschaffen, gemeinsam zu gedeihen – wie zwei Geschwüre ein und derselben Krankheit? [...] Es geschah beim Appell. Die Zahl stimmte nicht. Wir waren an die zehnmal durchgezählt worden. Haben wir Minuten, Stunden gewartet? (Vielleicht gibt es im Schrecken nur Jahrhunderte.) Die Zwergin trampelte auf ihren hohen Absätzen. Ganz allein in der Mitte des riesigen Platzes schwang sie hin und her wie eine entnervte Glocke. Eine fehlte. Sie wurde auf ihrem Strohsack schlafend in einer der Baracken gefunden. Die Hände auf dem Rücken, umkreist die Zwergin die Unglückliche, die sich, kaum wach und dösig, ihrerseits um diese herumdreht. Schließlich bleibt die Polakkin stehen, winkt Otto, einen Lagerkapo, herbei. In diesem Augenblick tritt vollständige Stille ein, als hielten Tausende von Leuten gleichzeitig den Atem an, und mir wird klar, dass das Mädchen verloren ist. Ihr selbst aber nicht. Sie sieht die verkrüppelte Person vertrauensvoll an, als wollte sie sagen: Ich kann nichts dafür, ich habe doch nur geschlafen. Otto – ich habe ihn beim Appell kennengelernt – ist Deutscher und vor dem Krieg als Schwerverbrecher zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ein Goliath, Bürstenschnitt, fett, rosiger Teint voll Sommersprossen (sogar seine große, dicke Hand ist davon übersät). Er winkt das Mädchen heran und befiehlt ihm, die Hände auszustrecken. Folgsam wie in der Schule gehorcht sie. Die Peitsche saust zweimal nieder, sie stöhnt, bleibt aber stehen. „Zieh dich aus!“. Die blutenden Finger versuchen, den weißen Kittel aufzuknöpfen, haben aber nicht die Kraft dazu. Otto reißt ihn ihr vom Leib. Er zieht seine Lederjacke aus, legt sie sorgfältig gefaltet auf den Boden. Diese sorgsame, bedächtige Art, seinen Mord vorzubereiten, erschüttert mich mehr als alles Folgende. Zum Glück wird sie fast sofort ohnmächtig. Otto schlägt weiter zu, bis ihm die Luft ausgeht. Er ist schweißgebadet, sein Hemd klebt ihm auf der Haut. Das, worauf er schlägt, ist nur noch ein Ding. Nach getaner Arbeit tobt er aus schierem Vergnügen weiter. Er mag das. Schließlich wird er von der Zwergin gestoppt. Sie beugt sich über den Körper, hebt den Kopf mit der Spitze ihres Absatzes an. Otto wischt sich die Stirn. Diejenige, die aufgehört hat, eine Nummer zu sein, wird weggebracht. Der Appell geht weiter.
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