An die Nachwelt

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[undatiert]
Ana Novac
Ich öffne die Augen, stütze mich auf die Ellbogen. Ich frage ihn, was er früher gemacht habe, ob er im Gymnasium gewesen sei. Ich frage ihn, wie ich jeden anderen Jungen gefragt hätte. Er sei Optikerlehrling gewesen und verstehe nicht, was ich daran so komisch finde. Ich weiß es selber nicht, ich muss einfach wie verrückt lachen. [...] „Du bist wirklich eine Nervensäge“, sagt er, „ich habe niemand getötet“. „Doch einmal“, verbessert er sich mit finsterer Miene. „Wen?“ „Jurek hat seine Schwester getötet, auf ihre eigene Bitte hin. Man wollte sie in ein Soldatenbordell an der Front bringen.“ Er verdankt sein Leben einem Wunder, wie fast alle. Er war fünfzehn. Fünf gleich große Jungen wurden hintereinander aufgestellt, so dass sie einander genau deckten. Auf diese Weise übte sich der Kommandant im Zielschießen. Die Leistung bestand darin, alle fünf Herzen mit einer einzigen Kugel zu durchbohren. (Damals eine sehr beliebte Sportart.) Aber dieser Junge hatte keine Lust, sich durchlöchern zu lassen. Er trat aus der Reihe und stellte sich vor den Kommandanten: „Mein Herr“, sagte er, „ich bin jung, ich will leben.“ Die Antwort war eine Ohrfeige, die einen Ochsen umgehauen hätte. Aber Jurek regte sich nicht, er sah dem Eliteschützen gerade in die Augen. ‚Dieser Taugenichts ist wirklich aus Eisen‘, sagte der Kommandant. Bravourös durchlöcherte er die verbliebenen Herzen und stellte Jurek als Stallburschen ein.“ „Der arme Junge”, seufzt der Fotograf, „was hat er von der Welt gesehen? Das Getto, das Lager und die Aktionen. Der Kommandant ist sein zweiter Vater und die Zwergin seine Ziehmutter. Was ist von solchen Eltern zu erwarten? Stell dir vor, er war noch nie im Kino.“ Der Traum seines Lebens war, Kameramann zu werden. Sollte der Herrgott ihm eines Tages erlauben, nach Hause zurückzukehren, will er sich darin versuchen. Ich höre ihm nur mit einem Ohr zu. Eine andere Geschichte geht mir durch den Kopf: „Es war einmal ein kleiner Optikerlehrling... und man hat ihn umgebracht.“ Das ist die ganze Geschichte.
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Ana Novac [undatiert] Ich öffne die Augen, stütze mich auf die Ellbogen. Ich frage ihn, was er früher gemacht habe, ob er im Gymnasium gewesen sei. Ich frage ihn, wie ich jeden anderen Jungen gefragt hätte. Er sei Optikerlehrling gewesen und verstehe nicht, was ich daran so komisch finde. Ich weiß es selber nicht, ich muss einfach wie verrückt lachen. [...] „Du bist wirklich eine Nervensäge“, sagt er, „ich habe niemand getötet“. „Doch einmal“, verbessert er sich mit finsterer Miene. „Wen?“ „Jurek hat seine Schwester getötet, auf ihre eigene Bitte hin. Man wollte sie in ein Soldatenbordell an der Front bringen.“ Er verdankt sein Leben einem Wunder, wie fast alle. Er war fünfzehn. Fünf gleich große Jungen wurden hintereinander aufgestellt, so dass sie einander genau deckten. Auf diese Weise übte sich der Kommandant im Zielschießen. Die Leistung bestand darin, alle fünf Herzen mit einer einzigen Kugel zu durchbohren. (Damals eine sehr beliebte Sportart.) Aber dieser Junge hatte keine Lust, sich durchlöchern zu lassen. Er trat aus der Reihe und stellte sich vor den Kommandanten: „Mein Herr“, sagte er, „ich bin jung, ich will leben.“ Die Antwort war eine Ohrfeige, die einen Ochsen umgehauen hätte. Aber Jurek regte sich nicht, er sah dem Eliteschützen gerade in die Augen. ‚Dieser Taugenichts ist wirklich aus Eisen‘, sagte der Kommandant. Bravourös durchlöcherte er die verbliebenen Herzen und stellte Jurek als Stallburschen ein.“ „Der arme Junge”, seufzt der Fotograf, „was hat er von der Welt gesehen? Das Getto, das Lager und die Aktionen. Der Kommandant ist sein zweiter Vater und die Zwergin seine Ziehmutter. Was ist von solchen Eltern zu erwarten? Stell dir vor, er war noch nie im Kino.“ Der Traum seines Lebens war, Kameramann zu werden. Sollte der Herrgott ihm eines Tages erlauben, nach Hause zurückzukehren, will er sich darin versuchen. Ich höre ihm nur mit einem Ohr zu. Eine andere Geschichte geht mir durch den Kopf: „Es war einmal ein kleiner Optikerlehrling... und man hat ihn umgebracht.“ Das ist die ganze Geschichte.
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