An die Nachwelt

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[undatiert]
Erich Egerland
Mein liebes, schwergeprüftes Friedelchen! Gewaltige Ereignisse von einschneidender Bedeutung gehen heute an allen Menschen vorüber, nicht ohne rücksichtslos tiefste Spuren zu hinterlassen. Es bleibt kaum einer von diesen Vorgängen verschont. Überall werden Menschen, die sich liebhaben, auseinandergerissen. Fürchterliche Leiden, wohin man sieht, und der Schrecken ist noch nicht zu Ende. Zehn Jahre Trennung sind keine Kleinigkeit. Ob ich diese Jahre nun bei mir nehme: Zuchthaus – Moor – Bomben – Lager – Hunderte, ja Du wirst es kaum glauben, Tausende von Leidensgenossen sind um mich verreckt. Oder ich nehme sie auf Deiner Seite: Sorge um die Existenz, der Kampf ums Dasein in seinen mannigfaltigen Variationen, die Auseinandersetzungen mit der Gestapo, die Pflicht dem Kind gegenüber, die ständige Angst um mich, dazu auch Bombengefahr, Krankheit und die Reibungen des täglichen Lebens. Alle diese Jahre haben uns keine Freude gebracht und konnten ohne Mühe ein Gemüt, eine Seele zerstören. Mein liebes Friedelchen! Hattest Du mich jemals aus tiefstem Herzen lieb, so musste ja eine längere Trennung von mir Deinen halben Tod bedeuten. Und das spricht unzweideutig aus allen Deinen Zeilen. Die schönsten Jahre des Lebens zum Opfer gebracht! Wofür? Das ist eine verhängnisvolle Frage. Der Verstand kann sie beantworten. Er geht an die Beantwortung heran, wie der Arzt mit dem Messer an eine Wunde. Ihn schmerzt der Schnitt nicht, er weiß, dass und wie er vollzogen werden muss. Auch der große Schnitt musste sein, Friedel! Uns zwar schmerzte er, konnte tödlich sein, vor allem im Herzen. Und nun fragst Du, warum gerade wir? Nein, alle! Alle, auch die, die nicht wollten oder konnten, bekommen die Rechnung vorgelegt. Das beweist jetzt die Geschichte mit Stahl und Eisen. So sagt der Verstand. Antwortet aber das Gefühl, dann wird es furchtbar. Und glaube etwa nur nicht, dass ich mein Empfinden eingesperrt hätte, während man mich eingesperrt hat. Die Vorstellung Deiner Leiden und Qualen und die eines unschuldigen Kindes, das nicht einmal ahnt, welch ein Anrecht es auf die Liebe, Sorge und Hilfe des Vaters hat. Um alles das und um die Harmonie glücklicher Eltern unwissend betrogen, es wirft mich fast um. Lass die knappen Worte meiner Sprache auf Dich wirken, wie sie sind. Genauso denke ich. Nur kann ich nicht alle die Empfindungen und Gedanken, die mich nie loslassen, in Worte kleiden. Zum Schluss, Friedelchen! Es dauert nicht mehr lange. Verlass Dich darauf. Eine andere, schönere Zeit steht vor der Tür. Wir nähern uns ihr sprunghaft. Es wäre mir fast unvorstellbar, wenn jetzt, da die Umrisse dieser besseren Zeit für uns schon zu erkennen sind, der eine oder andere versagen sollte. Alles rings um mich hätte mich schon längst ruiniert, wenn nicht das Wissen um die Dinge der Entwicklung und meine tiefe Liebe zu Dir und dem Kind mir immer wieder die Wege gewiesen hätten, die einzig und allein richtig sind. Voraussetzung ihres zielbewussten Beschreitens sind Kraft und Mut und Ausdauer. Sei tausendmal gegrüßt und geküsst von Deinem Erich
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Erich Egerland [undatiert] Mein liebes, schwergeprüftes Friedelchen! Gewaltige Ereignisse von einschneidender Bedeutung gehen heute an allen Menschen vorüber, nicht ohne rücksichtslos tiefste Spuren zu hinterlassen. Es bleibt kaum einer von diesen Vorgängen verschont. Überall werden Menschen, die sich liebhaben, auseinandergerissen. Fürchterliche Leiden, wohin man sieht, und der Schrecken ist noch nicht zu Ende. Zehn Jahre Trennung sind keine Kleinigkeit. Ob ich diese Jahre nun bei mir nehme: Zuchthaus – Moor – Bomben – Lager – Hunderte, ja Du wirst es kaum glauben, Tausende von Leidensgenossen sind um mich verreckt. Oder ich nehme sie auf Deiner Seite: Sorge um die Existenz, der Kampf ums Dasein in seinen mannigfaltigen Variationen, die Auseinandersetzungen mit der Gestapo, die Pflicht dem Kind gegenüber, die ständige Angst um mich, dazu auch Bombengefahr, Krankheit und die Reibungen des täglichen Lebens. Alle diese Jahre haben uns keine Freude gebracht und konnten ohne Mühe ein Gemüt, eine Seele zerstören. Mein liebes Friedelchen! Hattest Du mich jemals aus tiefstem Herzen lieb, so musste ja eine längere Trennung von mir Deinen halben Tod bedeuten. Und das spricht unzweideutig aus allen Deinen Zeilen. Die schönsten Jahre des Lebens zum Opfer gebracht! Wofür? Das ist eine verhängnisvolle Frage. Der Verstand kann sie beantworten. Er geht an die Beantwortung heran, wie der Arzt mit dem Messer an eine Wunde. Ihn schmerzt der Schnitt nicht, er weiß, dass und wie er vollzogen werden muss. Auch der große Schnitt musste sein, Friedel! Uns zwar schmerzte er, konnte tödlich sein, vor allem im Herzen. Und nun fragst Du, warum gerade wir? Nein, alle! Alle, auch die, die nicht wollten oder konnten, bekommen die Rechnung vorgelegt. Das beweist jetzt die Geschichte mit Stahl und Eisen. So sagt der Verstand. Antwortet aber das Gefühl, dann wird es furchtbar. Und glaube etwa nur nicht, dass ich mein Empfinden eingesperrt hätte, während man mich eingesperrt hat. Die Vorstellung Deiner Leiden und Qualen und die eines unschuldigen Kindes, das nicht einmal ahnt, welch ein Anrecht es auf die Liebe, Sorge und Hilfe des Vaters hat. Um alles das und um die Harmonie glücklicher Eltern unwissend betrogen, es wirft mich fast um. Lass die knappen Worte meiner Sprache auf Dich wirken, wie sie sind. Genauso denke ich. Nur kann ich nicht alle die Empfindungen und Gedanken, die mich nie loslassen, in Worte kleiden. Zum Schluss, Friedelchen! Es dauert nicht mehr lange. Verlass Dich darauf. Eine andere, schönere Zeit steht vor der Tür. Wir nähern uns ihr sprunghaft. Es wäre mir fast unvorstellbar, wenn jetzt, da die Umrisse dieser besseren Zeit für uns schon zu erkennen sind, der eine oder andere versagen sollte. Alles rings um mich hätte mich schon längst ruiniert, wenn nicht das Wissen um die Dinge der Entwicklung und meine tiefe Liebe zu Dir und dem Kind mir immer wieder die Wege gewiesen hätten, die einzig und allein richtig sind. Voraussetzung ihres zielbewussten Beschreitens sind Kraft und Mut und Ausdauer. Sei tausendmal gegrüßt und geküsst von Deinem Erich
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