An die Nachwelt

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23. September 1938
Eugen Kogon
Liebe Rita: – Hyross war heute wieder bei uns hier. Wir haben ihn kurz gesehen und gesprochen. Er war 4 Wochen in Dachau. [Generalstaatsanwalt] Welch hat ihn freibekommen. Er war heute bei ihm, mit seiner Frau, und hat sich bedankt. Er, der sonst so Lustige und Lebhafte, ist jetzt still und recht verschüchtert. Er hat uns die rechte und die linke Hand gegeben: die eine ist ganz aufgerissen und verschwielt, die andere eiterig. Man hat sie kahlgeschoren – im Münchener Polizeigefängnis, wo sie 2 Tage waren. Er sagt, in seiner Abteilung sind noch etwa 200 von unseren Bekannten, außerdem enorm viele Juden, vor allem bei Steinbrucharbeiten ... Durch die vielen, vielen Einzelschicksale, die wir in der Haft seit März erleben, haben wir ein gutes Bild vom Ganzen erhalten, sowohl von draußen, als auch vom inneren Getriebe. Ein zwar zugespitztes, vielleicht verschärftes Bild, aber ein umfassenderes und in manchem besseres, als man es draußen normalerweise bekommen kann. Was die Methode der Gestapo anlangt, die vielen mit Recht so rätselhaft erscheint, so habe ich folgenden Eindruck: Für die Vergangenheit wird diffamiert, für die Zukunft Schrecken verbreitet. Letzteres erfolgt durch ein undurchsichtiges Dezimierungssystem, das wie dilettantische Willkür aussieht: harmlose Leute, auch Unschuldige, werden mit schwersten Sanktionsmaßnahmen belegt (monatelange, verhörlose Haft, Verschickung [in ein KZ] etc.), andere, im Sinne des Nationalsozialismus Schuldige relativ bald freigelassen, und wieder umgekehrt. Es scheint manchmal rein nach der Reihenfolge der Aktennummern entschieden zu werden, manchmal nach ganz persönlichen Ansichten der sogenannten Referenten. Was mich anlangt, so bin ich überzeugt, dass ich höchstwahrscheinlich noch sehr lange in Haft bleiben werde.
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Eugen Kogon 23. September 1938 Liebe Rita: – Hyross war heute wieder bei uns hier. Wir haben ihn kurz gesehen und gesprochen. Er war 4 Wochen in Dachau. [Generalstaatsanwalt] Welch hat ihn freibekommen. Er war heute bei ihm, mit seiner Frau, und hat sich bedankt. Er, der sonst so Lustige und Lebhafte, ist jetzt still und recht verschüchtert. Er hat uns die rechte und die linke Hand gegeben: die eine ist ganz aufgerissen und verschwielt, die andere eiterig. Man hat sie kahlgeschoren – im Münchener Polizeigefängnis, wo sie 2 Tage waren. Er sagt, in seiner Abteilung sind noch etwa 200 von unseren Bekannten, außerdem enorm viele Juden, vor allem bei Steinbrucharbeiten ... Durch die vielen, vielen Einzelschicksale, die wir in der Haft seit März erleben, haben wir ein gutes Bild vom Ganzen erhalten, sowohl von draußen, als auch vom inneren Getriebe. Ein zwar zugespitztes, vielleicht verschärftes Bild, aber ein umfassenderes und in manchem besseres, als man es draußen normalerweise bekommen kann. Was die Methode der Gestapo anlangt, die vielen mit Recht so rätselhaft erscheint, so habe ich folgenden Eindruck: Für die Vergangenheit wird diffamiert, für die Zukunft Schrecken verbreitet. Letzteres erfolgt durch ein undurchsichtiges Dezimierungssystem, das wie dilettantische Willkür aussieht: harmlose Leute, auch Unschuldige, werden mit schwersten Sanktionsmaßnahmen belegt (monatelange, verhörlose Haft, Verschickung [in ein KZ] etc.), andere, im Sinne des Nationalsozialismus Schuldige relativ bald freigelassen, und wieder umgekehrt. Es scheint manchmal rein nach der Reihenfolge der Aktennummern entschieden zu werden, manchmal nach ganz persönlichen Ansichten der sogenannten Referenten. Was mich anlangt, so bin ich überzeugt, dass ich höchstwahrscheinlich noch sehr lange in Haft bleiben werde.
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