An die Nachwelt

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Nachwort
20. November 1944
Hanna Lévy-Hass
Es liegt etwas Sonderbares und Schreckliches in der Fähigkeit des menschlichen Wesens, sich allem anpassen zu können: der Demütigung, dem entehrenden Hunger, dem mangelnden Lebensraum, der stinkenden Luft, der Infektion, dem gemeinsamen Waschen. Dieses gemeinsame Waschen übersteigt alles, was die normale Vorstellungskraft fassen kann: Alle stehen nackt in einem Raum, der statt Fenstern und Türen nur gähnende Löcher aufweist und wo von allen Seiten der Luftzug durchpeitscht. Man wäscht sich, man reibt sich mit kaltem Wasser ab... inmitten von Schmutz, Exkrementen und Abfällen. Und man gewöhnt sich daran. Wie übrigens auch an den wachsenden Terror, an die zynische Brutalität, an die Alarme und Drohungen, an die Massenerkrankungen, an den vielfachen, kollektiven, langsamen, aber sicheren Tod... Er gewöhnt sich daran, der Mensch! Er sinkt immer tiefer, er geht unter. Und wenn er sich nicht mehr halten kann, dann stirbt er. Das ist die einzige Antwort. Und wir anderen, wir schleppen uns weiter – und gehen unter, auch wir sinken immer tiefer. O Schrecken. Dieser Tod, ohne zu sterben, bei lebendigem Leibe, langsam...
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Hanna Lévy-Hass 20. November 1944 Es liegt etwas Sonderbares und Schreckliches in der Fähigkeit des menschlichen Wesens, sich allem anpassen zu können: der Demütigung, dem entehrenden Hunger, dem mangelnden Lebensraum, der stinkenden Luft, der Infektion, dem gemeinsamen Waschen. Dieses gemeinsame Waschen übersteigt alles, was die normale Vorstellungskraft fassen kann: Alle stehen nackt in einem Raum, der statt Fenstern und Türen nur gähnende Löcher aufweist und wo von allen Seiten der Luftzug durchpeitscht. Man wäscht sich, man reibt sich mit kaltem Wasser ab... inmitten von Schmutz, Exkrementen und Abfällen. Und man gewöhnt sich daran. Wie übrigens auch an den wachsenden Terror, an die zynische Brutalität, an die Alarme und Drohungen, an die Massenerkrankungen, an den vielfachen, kollektiven, langsamen, aber sicheren Tod... Er gewöhnt sich daran, der Mensch! Er sinkt immer tiefer, er geht unter. Und wenn er sich nicht mehr halten kann, dann stirbt er. Das ist die einzige Antwort. Und wir anderen, wir schleppen uns weiter – und gehen unter, auch wir sinken immer tiefer. O Schrecken. Dieser Tod, ohne zu sterben, bei lebendigem Leibe, langsam...
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