An die Nachwelt

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Januar 1945
Hanna Lévy-Hass
Allgemeine Unterernährung. Nur mit großer Mühe gelingt es einem, sich zu bewegen. Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen. Die alte M. ist schnell gestorben; am übernächsten Tag war die Reihe an ihrem Mann, und dann kamen die Kinder, vom Hunger und den Läusen gefällt. Eines davon ist ein kurzsichtiger Bursche: Er ist mit dem Ungeziefer nicht fertig geworden, das seinen Körper überschwemmt hat und tief in die Haut eingedrungen ist, das sogar in seinen Wimpern sitzt – seine Brust ist ganz schwarz von den Tausenden von Läusen und ihren Nestern. So etwas hatte man noch nie gesehen, man konnte sich nicht einmal vorstellen, dass sich etwas Derartiges ereignen könnte. Und der Unglückliche ist davon völlig vernichtet, abgestumpft, er sieht bereits aus wie ein Idiot. Man sagt, er sei ein sehr intelligenter Junge gewesen, früher. Heute zieht er seinen langen, knochigen Körper langsam von einem Ende der Baracke zum anderen und stöhnt und jammert dabei. Jeder geht ihm aus dem Wege. Seine Schwester und sein Bruder fürchten seine Gegenwart, seine Flöhe und seine Klagen und hüten sich auch vor einer Annäherung. In einer der letzten Nächte schleppte er seinen überflüssigen Körper traurig von einem Bett zum anderen, bis zum Morgen, und bat die Leute, ihm ein wenig Platz zu machen, aber alle stießen ihn voll Abscheu zurück. Übrigens liegen wir zu zweit in einem Bett, und für ihn fand sich kein Partner, kein freies Bett, denn es gibt keins. So stirbt der junge M., ohne einen Platz zu finden, wo er seinen Leib hinlegen kann. Eine traurige Geschichte. Andererseits ist sein Fall keine Einzelerscheinung. Ähnliche Fälle findet man zu Tausenden in diesem Lager. Vor allem unter den Alten. Ihr Los hat etwas Schreckliches. Ein düsteres, unwürdig hässliches Ende erwartet sie alle: dieser schmerzlich und langsame Prozess des Todes in der Zersetzung und Fäulnis ihres eigenen Körpers.
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Hanna Lévy-Hass Januar 1945 Allgemeine Unterernährung. Nur mit großer Mühe gelingt es einem, sich zu bewegen. Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen. Die alte M. ist schnell gestorben; am übernächsten Tag war die Reihe an ihrem Mann, und dann kamen die Kinder, vom Hunger und den Läusen gefällt. Eines davon ist ein kurzsichtiger Bursche: Er ist mit dem Ungeziefer nicht fertig geworden, das seinen Körper überschwemmt hat und tief in die Haut eingedrungen ist, das sogar in seinen Wimpern sitzt – seine Brust ist ganz schwarz von den Tausenden von Läusen und ihren Nestern. So etwas hatte man noch nie gesehen, man konnte sich nicht einmal vorstellen, dass sich etwas Derartiges ereignen könnte. Und der Unglückliche ist davon völlig vernichtet, abgestumpft, er sieht bereits aus wie ein Idiot. Man sagt, er sei ein sehr intelligenter Junge gewesen, früher. Heute zieht er seinen langen, knochigen Körper langsam von einem Ende der Baracke zum anderen und stöhnt und jammert dabei. Jeder geht ihm aus dem Wege. Seine Schwester und sein Bruder fürchten seine Gegenwart, seine Flöhe und seine Klagen und hüten sich auch vor einer Annäherung. In einer der letzten Nächte schleppte er seinen überflüssigen Körper traurig von einem Bett zum anderen, bis zum Morgen, und bat die Leute, ihm ein wenig Platz zu machen, aber alle stießen ihn voll Abscheu zurück. Übrigens liegen wir zu zweit in einem Bett, und für ihn fand sich kein Partner, kein freies Bett, denn es gibt keins. So stirbt der junge M., ohne einen Platz zu finden, wo er seinen Leib hinlegen kann. Eine traurige Geschichte. Andererseits ist sein Fall keine Einzelerscheinung. Ähnliche Fälle findet man zu Tausenden in diesem Lager. Vor allem unter den Alten. Ihr Los hat etwas Schreckliches. Ein düsteres, unwürdig hässliches Ende erwartet sie alle: dieser schmerzlich und langsame Prozess des Todes in der Zersetzung und Fäulnis ihres eigenen Körpers.
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