An die Nachwelt

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[undatiert]
Hermann Danz
Mein liebes Mädchen! Nur wenige Tage trennen mich noch von dem Urteilsspruch, nicht aber von der Entscheidung. Diese fiel am Tag meiner Verhaftung. Als ich in Potsdam „vernommen“ worden war, wusste ich, dass das Todesurteil nur noch durch besondere Ereignisse abgewendet werden konnte. Meine Hoffnung auf solche war gering, und so stellte ich mich von Anfang an auf den Tod ein. Nun steht er unmittelbar bevor. Es ist ein sehr eigentümliches Gefühl, in einer engen Zelle zu sitzen, getrennt von allem, was einem lieb und teuer ist auf dieser Erde, und zu wissen: Nie wieder wird es werden, wie es war. Hinter allen Gedanken, die sich mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen, steht das unerbittliche „Nie wieder!“. Ich sah, wie die Sonne täglich langsam sank, und wusste, nie wieder werde ich erleben, dass sie täglich höher steigt. Als die Weinblätter am Kerkerfenster sich zu färben begannen – zuerst ganz zart, kaum merkbar, dann täglich mehr und mehr, bis sie schließlich in leuchtendem Rot erstrahlten, um zu verblassen und abzufallen -, erschienen sie mir als ein Symbol meiner Lage. So unerbittlich und unaufhaltsam wie dieser Prozess des langsamen Absterbens, so unerbittlich verrinnt auch meine Zeit. Noch nie habe ich Blätter in solcher Schönheit sterben sehen wie dieses Mal, da es zugleich das letzte Mal war, dass meine Augen solches sahen. Sie sind tot, die Blätter vor meinem Fenster, das letzte ist abgefallen, und auch meine Stunde ist nun gekommen. Freilich, die Blätter werden wiederkehren. Schon in wenigen Wochen beginnen sie zu rüsten, um im kommenden Frühjahr in strahlender Schöne in die Sonne zu lachen. Alles wird wieder sein, wie es war. Nur ich werde nicht mehr sein. „Nie wieder!“ Bin ich deshalb verzweifelt? War ich es in den letzten Wochen? Nein! In dem Maße, in dem die Überzeugung wuchs, dass nichts mich retten würde, wuchs in mir die Kraft, mein Schicksal mit Fassung zu tragen. Das Laub muss abfallen und verwesend als Dünger dienen. Nur so kann neues Leben wachsen. Und so sind auch wir, die wir für eine schöne und bessere Zukunft sterben, nichts als – es ist ein hartes Wort – Kulturdünger. Ohne unser Sterben kein neues Leben, keine Zukunft. Noch steckt die Menschheit tief im Tierreich, und die Gesetze ihrer Fortund Höherentwicklung sind noch dieselben wie dort. Es ist ein grausamer Kampf, in dem das Bessere sich nur durch Ströme von Blut durchsetzen kann. Wie in den vergangenen Jahrtausenden schreibt auch heute noch die Menschheit ihre Geschichte mit ihren edelsten Säften, mit ihrem Blut. Es wird eine Zeit kommen, da sie den entscheidenden Schritt tun und sich endgültig aus dem Tierreich lösen wird, wo aus den Nachfahren des „Pithekanthropus“ tatsächlich der „Homo sapiens“ wird. Dann erst wird die eigentliche Menschheitsgeschichte beginnen. Nicht mehr Blut und Feindschaft werden die Kampfmittel sein, sondern Vernunft und Verstand. Viel spricht dafür, dass wir uns diesem Zustand in raschem Tempo nähern, im Begriff stehen, eine jahrtausendelange Geschichte abzuschließen und ein neues Kapitel – das erste menschliche – zu beginnen. Es ist ein schönes Gefühl, mein Mädchen, zu dieser Entwicklung sein kleines Teilchen beigetragen zu haben. Der Tod ist eine natürliche Erscheinung, alle Kreatur muss sterben. Wer aber sein Leben hingibt für die Sache, macht sein Sterben zu einer Tat! Ein solches Sterben ist schön bei aller Grausamkeit, weil es nicht nutzlos ist. Liebes Evchen! Ich weiß, Dich trifft das schwerere Los. Und wäre ich an Deiner Stelle, ich sähe den Dingen nicht so ruhig ins Auge, wie ich es jetzt tue. Und doch muss ich aufrechterhalten, was ich Dir schon einmal sagte: „Leben ist ein Befehl, er lautet: lebe!“ Du hast noch Aufgaben in diesem Leben, denke immer daran! Ich habe Dir bisher verschwiegen, dass unser lieber Atti schon vor etwa einem Monat zum Tode verurteilt wurde. Er lebt, während ich dies schreibe, schon sicherlich nicht mehr. Ich habe also keine Illusionen. In etwa vier Wochen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Das neue Jahr, das auf jeden Fall und unwiderruflich den Beginn der neuen Zeit, den Anfang eines neuen Abschnitts der Geschichte der Menschheit bringen wird, werde ich nicht mehr erleben. Ich sterbe am Ende der alten Zeit, damit die anderen die neue beginnen können. Bin ich deshalb traurig? Nein. Ich bin zufrieden, dass mir das Schicksal die Möglichkeit gab, bis dicht an die Schwelle der Zeitenwende zu gelangen, und mich kurz vor meinem Tode einen Blick hinüber tun ließ in die eben beginnende neue Zeit. Es werden für die, die diesen Krieg überstehen, noch lange Jahre voll bitterer Mühen, Not und Sorgen kommen. Doch wird sich dies alles leichter ertragen lassen, weil es im Dienste des Neuen, des Positiven geschieht, weil es die Zukunft, das Glück der Menschheit verbürgt. Wie ich schon sagte, mein Herz schlägt nicht schneller, wenn ich daran denke, das ich in wenigen Tagen sterben soll. Doch ich will nicht verschweigen, unangenehm ist mir der Gedanke an die Art, in der das vor sich gehen wird. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich Erhängen vorziehen. Ich weiß, dass man auf diese Weise sehr schnell und schmerzlos stirbt, unbemerkt, so wie der Schlaf eintritt. Der Schlaf, den die Alten den kleinen Bruder des Todes nannten. Ich möchte immer weiterschreiben, ohne Unterlass meine Seele vor Dir ausbreiten. Denn solange ich Dir schreibe, ist mir, als seiest Du bei mir und schautest mich liebevoll an. Doch es drängt die Zeit. Und so will ich zum Schluss Deine Worte benutzen: „Über Raum und Zeit“ leb wohl, mein Evchen! Dein Hermann
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Hermann Danz [undatiert] Mein liebes Mädchen! Nur wenige Tage trennen mich noch von dem Urteilsspruch, nicht aber von der Entscheidung. Diese fiel am Tag meiner Verhaftung. Als ich in Potsdam „vernommen“ worden war, wusste ich, dass das Todesurteil nur noch durch besondere Ereignisse abgewendet werden konnte. Meine Hoffnung auf solche war gering, und so stellte ich mich von Anfang an auf den Tod ein. Nun steht er unmittelbar bevor. Es ist ein sehr eigentümliches Gefühl, in einer engen Zelle zu sitzen, getrennt von allem, was einem lieb und teuer ist auf dieser Erde, und zu wissen: Nie wieder wird es werden, wie es war. Hinter allen Gedanken, die sich mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigen, steht das unerbittliche „Nie wieder!“. Ich sah, wie die Sonne täglich langsam sank, und wusste, nie wieder werde ich erleben, dass sie täglich höher steigt. Als die Weinblätter am Kerkerfenster sich zu färben begannen – zuerst ganz zart, kaum merkbar, dann täglich mehr und mehr, bis sie schließlich in leuchtendem Rot erstrahlten, um zu verblassen und abzufallen -, erschienen sie mir als ein Symbol meiner Lage. So unerbittlich und unaufhaltsam wie dieser Prozess des langsamen Absterbens, so unerbittlich verrinnt auch meine Zeit. Noch nie habe ich Blätter in solcher Schönheit sterben sehen wie dieses Mal, da es zugleich das letzte Mal war, dass meine Augen solches sahen. Sie sind tot, die Blätter vor meinem Fenster, das letzte ist abgefallen, und auch meine Stunde ist nun gekommen. Freilich, die Blätter werden wiederkehren. Schon in wenigen Wochen beginnen sie zu rüsten, um im kommenden Frühjahr in strahlender Schöne in die Sonne zu lachen. Alles wird wieder sein, wie es war. Nur ich werde nicht mehr sein. „Nie wieder!“ Bin ich deshalb verzweifelt? War ich es in den letzten Wochen? Nein! In dem Maße, in dem die Überzeugung wuchs, dass nichts mich retten würde, wuchs in mir die Kraft, mein Schicksal mit Fassung zu tragen. Das Laub muss abfallen und verwesend als Dünger dienen. Nur so kann neues Leben wachsen. Und so sind auch wir, die wir für eine schöne und bessere Zukunft sterben, nichts als – es ist ein hartes Wort – Kulturdünger. Ohne unser Sterben kein neues Leben, keine Zukunft. Noch steckt die Menschheit tief im Tierreich, und die Gesetze ihrer Fortund Höherentwicklung sind noch dieselben wie dort. Es ist ein grausamer Kampf, in dem das Bessere sich nur durch Ströme von Blut durchsetzen kann. Wie in den vergangenen Jahrtausenden schreibt auch heute noch die Menschheit ihre Geschichte mit ihren edelsten Säften, mit ihrem Blut. Es wird eine Zeit kommen, da sie den entscheidenden Schritt tun und sich endgültig aus dem Tierreich lösen wird, wo aus den Nachfahren des „Pithekanthropus“ tatsächlich der „Homo sapiens“ wird. Dann erst wird die eigentliche Menschheitsgeschichte beginnen. Nicht mehr Blut und Feindschaft werden die Kampfmittel sein, sondern Vernunft und Verstand. Viel spricht dafür, dass wir uns diesem Zustand in raschem Tempo nähern, im Begriff stehen, eine jahrtausendelange Geschichte abzuschließen und ein neues Kapitel – das erste menschliche – zu beginnen. Es ist ein schönes Gefühl, mein Mädchen, zu dieser Entwicklung sein kleines Teilchen beigetragen zu haben. Der Tod ist eine natürliche Erscheinung, alle Kreatur muss sterben. Wer aber sein Leben hingibt für die Sache, macht sein Sterben zu einer Tat! Ein solches Sterben ist schön bei aller Grausamkeit, weil es nicht nutzlos ist. Liebes Evchen! Ich weiß, Dich trifft das schwerere Los. Und wäre ich an Deiner Stelle, ich sähe den Dingen nicht so ruhig ins Auge, wie ich es jetzt tue. Und doch muss ich aufrechterhalten, was ich Dir schon einmal sagte: „Leben ist ein Befehl, er lautet: lebe!“ Du hast noch Aufgaben in diesem Leben, denke immer daran! Ich habe Dir bisher verschwiegen, dass unser lieber Atti schon vor etwa einem Monat zum Tode verurteilt wurde. Er lebt, während ich dies schreibe, schon sicherlich nicht mehr. Ich habe also keine Illusionen. In etwa vier Wochen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein. Das neue Jahr, das auf jeden Fall und unwiderruflich den Beginn der neuen Zeit, den Anfang eines neuen Abschnitts der Geschichte der Menschheit bringen wird, werde ich nicht mehr erleben. Ich sterbe am Ende der alten Zeit, damit die anderen die neue beginnen können. Bin ich deshalb traurig? Nein. Ich bin zufrieden, dass mir das Schicksal die Möglichkeit gab, bis dicht an die Schwelle der Zeitenwende zu gelangen, und mich kurz vor meinem Tode einen Blick hinüber tun ließ in die eben beginnende neue Zeit. Es werden für die, die diesen Krieg überstehen, noch lange Jahre voll bitterer Mühen, Not und Sorgen kommen. Doch wird sich dies alles leichter ertragen lassen, weil es im Dienste des Neuen, des Positiven geschieht, weil es die Zukunft, das Glück der Menschheit verbürgt. Wie ich schon sagte, mein Herz schlägt nicht schneller, wenn ich daran denke, das ich in wenigen Tagen sterben soll. Doch ich will nicht verschweigen, unangenehm ist mir der Gedanke an die Art, in der das vor sich gehen wird. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich Erhängen vorziehen. Ich weiß, dass man auf diese Weise sehr schnell und schmerzlos stirbt, unbemerkt, so wie der Schlaf eintritt. Der Schlaf, den die Alten den kleinen Bruder des Todes nannten. Ich möchte immer weiterschreiben, ohne Unterlass meine Seele vor Dir ausbreiten. Denn solange ich Dir schreibe, ist mir, als seiest Du bei mir und schautest mich liebevoll an. Doch es drängt die Zeit. Und so will ich zum Schluss Deine Worte benutzen: „Über Raum und Zeit“ leb wohl, mein Evchen! Dein Hermann
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