An die Nachwelt

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14. Oktober 1944
Lilly Zielenziger
Gestern hatte ich wieder eine anregende Unterhaltung mit Herrn Rosenberg[,] der mir eine nationalökonomische Erklärung abgab über das Zustandekommen der hiesigen “Warenkurse” auf der Währungsbasis von Brot. Eine Inflation ist unmöglich, da nur soviel gehandelt werden kann als Brot vorhanden ist, also das Schacht’sche Ideal ist hier gegeben. Es ist für mich interessant zu beobachten, wie hier in diesem Mikrokosmos sich ein soziales und soziologisches Leben entfaltet genau wie im Leben jenseits vom Stacheldraht, ähnlich wie auf dem Musa Dagh. Wenn auch die Basis kommunistisch ist: jeder dasselbe Bett von 50 cm Breite, jeder dasselbe Essen aus dem gleichen Gefäß etc. so treibt der Kapitalismus doch seine Blüten in der individuellen Ausnützung der Fähigkeiten. Ob der Intellektuelle Sprachstunden gibt, oder Bücher verleiht, ob die Frauen je nach Begabung als Waschfrauen oder Hausschneiderinnen fungieren, um alle das heißersehnte Brot zu verdienen. Dazwischen bewegen sich die Handeltreibenden Vermittler, zum Teil verschämt camoufliert zum Teil genau so spekulantenhafte Schieber, die auch im normalen Leben nur Nonvaleurs sind und von solchen abnormen Zuständen profitieren wie s. zt. in den Inflationsund Krisenjahren. Und selbst das emotionelle Leben besteht in gleichem Maße. So wie viele Menschen sterben, so werden Kinder geboren, so entstand sogar eine Verlobung im Altersheim groteskerweise, so bestehen Liebesverhältnisse aller Art bei allem erzwungenem Platonismus. Eine verheiratete Frau vergießt Tränen um ihren alten Freund, eine andere weint bitterlich, als ihr langjähriger Freund verlegt wird in ein anderes Lager. Eine Frau begrüßt morgens zuerst auf dem Appellplatz ihren Freund, und abends beschließt sie den Tag mit Mann und Sohn.
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Lilly Zielenziger 14. Oktober 1944 Gestern hatte ich wieder eine anregende Unterhaltung mit Herrn Rosenberg[,] der mir eine nationalökonomische Erklärung abgab über das Zustandekommen der hiesigen “Warenkurse” auf der Währungsbasis von Brot. Eine Inflation ist unmöglich, da nur soviel gehandelt werden kann als Brot vorhanden ist, also das Schacht’sche Ideal ist hier gegeben. Es ist für mich interessant zu beobachten, wie hier in diesem Mikrokosmos sich ein soziales und soziologisches Leben entfaltet genau wie im Leben jenseits vom Stacheldraht, ähnlich wie auf dem Musa Dagh. Wenn auch die Basis kommunistisch ist: jeder dasselbe Bett von 50 cm Breite, jeder dasselbe Essen aus dem gleichen Gefäß etc. so treibt der Kapitalismus doch seine Blüten in der individuellen Ausnützung der Fähigkeiten. Ob der Intellektuelle Sprachstunden gibt, oder Bücher verleiht, ob die Frauen je nach Begabung als Waschfrauen oder Hausschneiderinnen fungieren, um alle das heißersehnte Brot zu verdienen. Dazwischen bewegen sich die Handeltreibenden Vermittler, zum Teil verschämt camoufliert zum Teil genau so spekulantenhafte Schieber, die auch im normalen Leben nur Nonvaleurs sind und von solchen abnormen Zuständen profitieren wie s. zt. in den Inflationsund Krisenjahren. Und selbst das emotionelle Leben besteht in gleichem Maße. So wie viele Menschen sterben, so werden Kinder geboren, so entstand sogar eine Verlobung im Altersheim groteskerweise, so bestehen Liebesverhältnisse aller Art bei allem erzwungenem Platonismus. Eine verheiratete Frau vergießt Tränen um ihren alten Freund, eine andere weint bitterlich, als ihr langjähriger Freund verlegt wird in ein anderes Lager. Eine Frau begrüßt morgens zuerst auf dem Appellplatz ihren Freund, und abends beschließt sie den Tag mit Mann und Sohn.
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