An die Nachwelt

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[undatiert]
Nikolaus von Halem
Mein Liebstes, ich habe heute Nacht von Dir geträumt, nicht zum ersten Mal, o nein, aber doch besonders deutlich und eindringlich, weil ich schon wusste und mich den ganzen Abend darauf gefreut hatte, dass ich zu dieser grauen Stunde hier sitzen und an Dich schreiben würde. Zwar nur ein elendes Zettelchen – auch Schreibpapier gibt es im Tartarus nicht, aber da ist meine kleine Schrift ja einmal von Nutzen. […] Was hier über mich hereingebrochen ist, entbehrt aller Erhabenheit und Größe. Es ist ein widerliches und vielleicht wahrscheinlich – wer weiß es? – irreparables Missgeschick. Die Beschuldigungen gegen mich sind erlogen und fließen aus sehr trüben Quellen. Ehrgeiz, der sich ans falsche Objekt klammert, gekränktes Selbstgefühl, was weiß ich, ein ganzer Brei vergorener Suppen brodelt in dieser Brühe. Nun, so etwas lässt sich bekanntlich am schwersten entkräften, zumal sich das Hauptargument schlecht anbringen lässt: nämlich, dass die ganze Konstruktion des Tatbestandes dem geistigen Niveau des Denunzianten, nicht aber dem meinen entspricht. [...] Ich lebe in einem Roman von Dickens, für das unreife Alter und Filmzwecke neu bearbeitet von Jack London und Krasnow, vermutlich als eine der nicht unsympathischen Randfiguren, die geopfert werden müssen, damit das Zentrale an Lebensechtheit gewinnt. Aber was geht das alles noch mich an? Du weißt, dass es von jeher mein Ziel war, die störenden kleinen Eingriffe, wie z. B. körperliche Schmerzen, in eine ihnen zukommende Souterrain-Waschküche zu manövrieren. Ich habe in dieser Kunst seither vieles gelernt und bin mir auch für das, was noch kommen mag meiner selbst einigermaßen sicher. Alles um mich herum ist klein, nichtig arm, hässlich in einem unglaublichen Sinne, ohne allen Adel, bisweilen schauerlich, immer aber ohne alle Realität. Was also kümmert‘s mich? Ich habe auf Zeitungsrändern, kleinen Zetteln und schlimmen Fetzen ein halbes Dutzend Essays geschrieben, in deren Gerippe noch eine Menge faktischer Substanz einzufüllen bleibt. Die fehlt mir aber, da ich seit einem halben Jahr kein Buch mehr gesehen habe. Hier die Themen: Konrad Lund Heinrich L. (das Problem der Opposition als Vorschule der Herrschaft), das Wormser Konkordat als europäischer Ordnungsversuch. Revolutionselemente in der Goldenen Bulle (das als Mittelpunkt der frühmittelalterlichen Sizinerrevolution); Yorck und Preußen; Ludendorff, die Symbolgestalt des deutschen Schicksals, das heißt am Ende der bürgerlichen Epoche; und schließlich, wenngleich in die Mitte gehörend, einen Aufsatz über Leibniz, der mich besonders beschäftigt. Ach, die herrliche Monadenlehre, dieser klare, lebensvolle Bau der Welt! Ich versenke mich mit wahrer Wonne gerade in diese Gedanken, von denen mein Kopf nur leider so vieles nicht enthält. Wie lieb wäre es mir zu denken, dass Du eine kleine Leibniz-Bibliographie zusammenstelltest, mir ist die Literatur zu ihm gar nicht geläufig. Besonders die erwähnten Skripte, selbst im Urtext und in kritischen Ausgaben. Mein Liebstes, dies elende Zettelchen geht zu Ende und ich schwatze hier von Dingen, die doch nur Inventar meines düsteren Loses sind und da auch bleiben sollen wie Fledermäuse in der Dämmerung. Aber Du glaubst gar nicht, was für ein Genuss es ist, einmal etwas anderes ins Auge zu fassen, als die kleinen Dinge des kommenden Leb wohl, meine Schöne, Reizende, Geliebte! Verschenke Dich, aber verschleudere Dich nicht! Ja, ja, mein Herz, wenn man wirklich allein wäre, so bedeutete dies alles nichts, der Schmerz und die Unruhe fangen erst bei den anderen Menschen an. Meine Söhne! Mein Fritzchen, von dem ich nicht einmal ein Bild haben darf! Da kann das Bewusstsein der Situation, wenn es wieder einmal recht deutlich aufsteigt, fast zu einer körperlichen Qual werden. Indessen – Bleibt, was ich vielleicht zu diesem oder jenem Punkte des Lebens und der deutschen und europäischen Situation zu sagen haben würde – und ich hätte schon etwas zu sagen. Jedoch es sind Gedanken, die die Wirklichkeit schaffen, nicht Worte, und denken kann ich hier wie in der Freiheit. Du siehst, mein Herz, wie kurz die Kette ist, an der ich liege. Schon wieder bin ich bei mir und meiner Situation. Und ich versichere Dich, dass diese eigentümliche Lage, die heute 164 Tage währt ein sehr merkwürdiges Erlebnis ist. In all der abscheulichen, stumpfen Hässlichkeit, die mich hier umgibt, lass ich meine Augen zuweilen auf Deinem Nädelchen und dem Dunhill ausruhen. Es ist mir immer gelungen, sie bei mir zu behalten, und sie sind ein reizender Trost. Deine Lederweste trag ich tagaus, tagein, die ganze Zeit. Sie ist nicht sauberer geworden, aber Wärmen ist ja ihr Lebenszweck und den kann sie hier erfüllen. Ach, mein Herz, mein Herz, nun heißt es endgültig Abschied nehmen. Indem ich Dir schrieb, umfloss mich noch Deine Atmosphäre, Dein Zauber und Glanz wieder.
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Reiner Text
Nikolaus von Halem [undatiert] Mein Liebstes, ich habe heute Nacht von Dir geträumt, nicht zum ersten Mal, o nein, aber doch besonders deutlich und eindringlich, weil ich schon wusste und mich den ganzen Abend darauf gefreut hatte, dass ich zu dieser grauen Stunde hier sitzen und an Dich schreiben würde. Zwar nur ein elendes Zettelchen – auch Schreibpapier gibt es im Tartarus nicht, aber da ist meine kleine Schrift ja einmal von Nutzen. […] Was hier über mich hereingebrochen ist, entbehrt aller Erhabenheit und Größe. Es ist ein widerliches und vielleicht wahrscheinlich – wer weiß es? – irreparables Missgeschick. Die Beschuldigungen gegen mich sind erlogen und fließen aus sehr trüben Quellen. Ehrgeiz, der sich ans falsche Objekt klammert, gekränktes Selbstgefühl, was weiß ich, ein ganzer Brei vergorener Suppen brodelt in dieser Brühe. Nun, so etwas lässt sich bekanntlich am schwersten entkräften, zumal sich das Hauptargument schlecht anbringen lässt: nämlich, dass die ganze Konstruktion des Tatbestandes dem geistigen Niveau des Denunzianten, nicht aber dem meinen entspricht. [...] Ich lebe in einem Roman von Dickens, für das unreife Alter und Filmzwecke neu bearbeitet von Jack London und Krasnow, vermutlich als eine der nicht unsympathischen Randfiguren, die geopfert werden müssen, damit das Zentrale an Lebensechtheit gewinnt. Aber was geht das alles noch mich an? Du weißt, dass es von jeher mein Ziel war, die störenden kleinen Eingriffe, wie z. B. körperliche Schmerzen, in eine ihnen zukommende Souterrain-Waschküche zu manövrieren. Ich habe in dieser Kunst seither vieles gelernt und bin mir auch für das, was noch kommen mag meiner selbst einigermaßen sicher. Alles um mich herum ist klein, nichtig arm, hässlich in einem unglaublichen Sinne, ohne allen Adel, bisweilen schauerlich, immer aber ohne alle Realität. Was also kümmert‘s mich? Ich habe auf Zeitungsrändern, kleinen Zetteln und schlimmen Fetzen ein halbes Dutzend Essays geschrieben, in deren Gerippe noch eine Menge faktischer Substanz einzufüllen bleibt. Die fehlt mir aber, da ich seit einem halben Jahr kein Buch mehr gesehen habe. Hier die Themen: Konrad Lund Heinrich L. (das Problem der Opposition als Vorschule der Herrschaft), das Wormser Konkordat als europäischer Ordnungsversuch. Revolutionselemente in der Goldenen Bulle (das als Mittelpunkt der frühmittelalterlichen Sizinerrevolution); Yorck und Preußen; Ludendorff, die Symbolgestalt des deutschen Schicksals, das heißt am Ende der bürgerlichen Epoche; und schließlich, wenngleich in die Mitte gehörend, einen Aufsatz über Leibniz, der mich besonders beschäftigt. Ach, die herrliche Monadenlehre, dieser klare, lebensvolle Bau der Welt! Ich versenke mich mit wahrer Wonne gerade in diese Gedanken, von denen mein Kopf nur leider so vieles nicht enthält. Wie lieb wäre es mir zu denken, dass Du eine kleine Leibniz-Bibliographie zusammenstelltest, mir ist die Literatur zu ihm gar nicht geläufig. Besonders die erwähnten Skripte, selbst im Urtext und in kritischen Ausgaben. Mein Liebstes, dies elende Zettelchen geht zu Ende und ich schwatze hier von Dingen, die doch nur Inventar meines düsteren Loses sind und da auch bleiben sollen wie Fledermäuse in der Dämmerung. Aber Du glaubst gar nicht, was für ein Genuss es ist, einmal etwas anderes ins Auge zu fassen, als die kleinen Dinge des kommenden Leb wohl, meine Schöne, Reizende, Geliebte! Verschenke Dich, aber verschleudere Dich nicht! Ja, ja, mein Herz, wenn man wirklich allein wäre, so bedeutete dies alles nichts, der Schmerz und die Unruhe fangen erst bei den anderen Menschen an. Meine Söhne! Mein Fritzchen, von dem ich nicht einmal ein Bild haben darf! Da kann das Bewusstsein der Situation, wenn es wieder einmal recht deutlich aufsteigt, fast zu einer körperlichen Qual werden. Indessen – Bleibt, was ich vielleicht zu diesem oder jenem Punkte des Lebens und der deutschen und europäischen Situation zu sagen haben würde – und ich hätte schon etwas zu sagen. Jedoch es sind Gedanken, die die Wirklichkeit schaffen, nicht Worte, und denken kann ich hier wie in der Freiheit. Du siehst, mein Herz, wie kurz die Kette ist, an der ich liege. Schon wieder bin ich bei mir und meiner Situation. Und ich versichere Dich, dass diese eigentümliche Lage, die heute 164 Tage währt ein sehr merkwürdiges Erlebnis ist. In all der abscheulichen, stumpfen Hässlichkeit, die mich hier umgibt, lass ich meine Augen zuweilen auf Deinem Nädelchen und dem Dunhill ausruhen. Es ist mir immer gelungen, sie bei mir zu behalten, und sie sind ein reizender Trost. Deine Lederweste trag ich tagaus, tagein, die ganze Zeit. Sie ist nicht sauberer geworden, aber Wärmen ist ja ihr Lebenszweck und den kann sie hier erfüllen. Ach, mein Herz, mein Herz, nun heißt es endgültig Abschied nehmen. Indem ich Dir schrieb, umfloss mich noch Deine Atmosphäre, Dein Zauber und Glanz wieder.
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