An die Nachwelt

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03. Mai 1944
Renata Laqueur
Ich habe entsetzliche Sehnsucht nach allem, was ich hinter mir ließ, spüre unsagbares Heimweh nach daheim. Wissen sie zu Hause, was es wert ist, in einem Zimmer sitzen zu können, an einem blumengeschmückten Tisch aus hübschen Tassen Tee zu trinken? Wissen sie es zu schätzen, dass sie pünktlich um halb 7 zu Abend essen können? Gutes zu essen? Ich komme auch um halb sieben nach Hause. Aber ich gehe in diese verdammte Baracke, unter anfeuernden Rufen wie: „... Ich lass euch stehen, bis euch die Sch... aus dem A... läuft.“ Dann habe ich elf Stunden Arbeit in einer staubigen, schmutzigen Halle hinter mir, in der ich gesessen habe und gewartet. Einmal darauf, dass es halb zwölf wird und dann wieder halb sieben. Ich bin nicht eifersüchtig darauf, dass meine Angehörigen in einem gemütlichen Heim sitzen können und gezwungen sind, Mutmaßungen über unser Los anzustellen. Es muss schwer sein, diese Ungewissheit, dieses Phantasieren, schlimmer als hier die Wirklichkeit zu ertragen. Und doch möchte ich nur einmal lieber 5 Minuten phantasieren anstatt zu ertragen. Was geschieht in Holland, ist alles beim Alten, alles wie gewöhnlich? Jetzt regnet es hier und hagelt, und die Stimmung ist nervös gespannt! Auf dem Appellplatz stehen währenddessen die von der Arbeit freigestellten Frauen mit ihren Kleinkindern zum Strafappell. Sie stehen dort seit anderthalb Stunden. Das Zahlen soll wieder einmal nicht geklappt haben. Mein Gott, gibt es denn kein Ende? Vater, Mutter, ich flehe euch an, denkt eine einzige Sekunde intensiv an mich. Ich werde es auch tun, und unsere Gedanken werden sich treffen und vereinigen, und ich kann für einen Moment diese schmerzende Isolation vergessen.
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Reiner Text
Renata Laqueur 03. Mai 1944 Ich habe entsetzliche Sehnsucht nach allem, was ich hinter mir ließ, spüre unsagbares Heimweh nach daheim. Wissen sie zu Hause, was es wert ist, in einem Zimmer sitzen zu können, an einem blumengeschmückten Tisch aus hübschen Tassen Tee zu trinken? Wissen sie es zu schätzen, dass sie pünktlich um halb 7 zu Abend essen können? Gutes zu essen? Ich komme auch um halb sieben nach Hause. Aber ich gehe in diese verdammte Baracke, unter anfeuernden Rufen wie: „... Ich lass euch stehen, bis euch die Sch... aus dem A... läuft.“ Dann habe ich elf Stunden Arbeit in einer staubigen, schmutzigen Halle hinter mir, in der ich gesessen habe und gewartet. Einmal darauf, dass es halb zwölf wird und dann wieder halb sieben. Ich bin nicht eifersüchtig darauf, dass meine Angehörigen in einem gemütlichen Heim sitzen können und gezwungen sind, Mutmaßungen über unser Los anzustellen. Es muss schwer sein, diese Ungewissheit, dieses Phantasieren, schlimmer als hier die Wirklichkeit zu ertragen. Und doch möchte ich nur einmal lieber 5 Minuten phantasieren anstatt zu ertragen. Was geschieht in Holland, ist alles beim Alten, alles wie gewöhnlich? Jetzt regnet es hier und hagelt, und die Stimmung ist nervös gespannt! Auf dem Appellplatz stehen währenddessen die von der Arbeit freigestellten Frauen mit ihren Kleinkindern zum Strafappell. Sie stehen dort seit anderthalb Stunden. Das Zahlen soll wieder einmal nicht geklappt haben. Mein Gott, gibt es denn kein Ende? Vater, Mutter, ich flehe euch an, denkt eine einzige Sekunde intensiv an mich. Ich werde es auch tun, und unsere Gedanken werden sich treffen und vereinigen, und ich kann für einen Moment diese schmerzende Isolation vergessen.
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