An die Nachwelt

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15. Juni 1944
Renata Laqueur
Ich denke viel darüber nach, wie wohl die Zeit nach dem Kriege aussehen wird. Werden wir jemandem, der nicht zufällig Ähnliches mitgemacht hat wie wir, überhaupt etwas erzählen können? Können wir in Worte fassen, was dieses Erlebnis des Lagers für uns bedeutet? Was das heißt: hinter Stacheldraht zu sehen, wie schlanke Kiefern emporwachsen und junges Blattgrün entlang einer Lagerstraße aufsprießt, was der dauernde Zwang und Druck der SS-Bewachung und der ständigen Kontrolle bedeuten; wie man dauernd bemüht ist, sich vorzustellen: dich selbst berührt es nicht, dieses Geschrei, Geschelte, Gepolter, wie man spürt, dass man älter wird, dass einem die Jugend zwischen den Fingern zerrinnt in diesem jahrelangen Warten auf das Ende der Unterdrückung. Was Monate bedeuten, in denen man die Stunden, Tage und Wochen zählt und in denen die einzigen Lichtpunkte sind: der Schlaf, das warme Essen und einige Sonnenstrahlen auf dem Weg vom Appellplatz zur Baracke nach einem langen Appell in feuchter Kälte. Lichtpunkte: Gedanken und Träume von früheren ... Können sie begreifen, dass wir angesichts dieser leuchtend schönen Wolken, dieser weißen, grauen und graublauen Wolkenfetzen über dem Lager doch immerfort an den grauen holländischen Himmel über dem prallen grünen Polderland denken müssen und dass wir hier jede Wolke – mag sie noch so phantastisch schön geformt sein – innerlich ablehnen, weil sie nicht über unserem Lande hängt, sondern eine deutsche Wolke ist. Heimweh und nochmals Heimweh. Und ob es die französischen Frauen mit ihrem „Paris, Paris“ sind oder die Italiener in ihren südländischen, buntscheckigen Kleidern oder die griechisch-spanischen Juden aus Saloniki: Sie alle denken und ersehnen eines: nach Hause. Nach dem Krieg nach Hause! Und was ist dieses Zuhause? Werden wir aus dieser Lagergemeinschaft überhaupt den Weg zurückfinden in eine Welt, in der die meisten von uns nicht mehr besitzen als die Erinnerung an „Vor dem Kriege“, in der wir mit Menschen zusammenleben müssen, denen unser Erlebnis des Lagerdaseins nichts weiter bedeuten wird als: „Da haben wir wieder so einen, der immer nur über das Verlorene klagt und so grausige Dinge erzählt...“ und wird das Juden-Arier-Problem weiterhin bestehen bleiben? Wird es etwas bleiben, was man als ein Problem betrachtet, etwas, worüber man spricht oder nachdenkt? Können wir‘s heute schon wissen? Vorläufig bedeutet „Friede” für uns: essen, essen, schlafen und dann wieder essen. Brot, Käsebrot, Marmeladebrot. Essen bis zum Sattsein. O säße ich nur erst einmal in Oldenzaal bei der ersten Tasse Kaffee und einem schönen Käsebrot!
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Renata Laqueur 15. Juni 1944 Ich denke viel darüber nach, wie wohl die Zeit nach dem Kriege aussehen wird. Werden wir jemandem, der nicht zufällig Ähnliches mitgemacht hat wie wir, überhaupt etwas erzählen können? Können wir in Worte fassen, was dieses Erlebnis des Lagers für uns bedeutet? Was das heißt: hinter Stacheldraht zu sehen, wie schlanke Kiefern emporwachsen und junges Blattgrün entlang einer Lagerstraße aufsprießt, was der dauernde Zwang und Druck der SS-Bewachung und der ständigen Kontrolle bedeuten; wie man dauernd bemüht ist, sich vorzustellen: dich selbst berührt es nicht, dieses Geschrei, Geschelte, Gepolter, wie man spürt, dass man älter wird, dass einem die Jugend zwischen den Fingern zerrinnt in diesem jahrelangen Warten auf das Ende der Unterdrückung. Was Monate bedeuten, in denen man die Stunden, Tage und Wochen zählt und in denen die einzigen Lichtpunkte sind: der Schlaf, das warme Essen und einige Sonnenstrahlen auf dem Weg vom Appellplatz zur Baracke nach einem langen Appell in feuchter Kälte. Lichtpunkte: Gedanken und Träume von früheren ... Können sie begreifen, dass wir angesichts dieser leuchtend schönen Wolken, dieser weißen, grauen und graublauen Wolkenfetzen über dem Lager doch immerfort an den grauen holländischen Himmel über dem prallen grünen Polderland denken müssen und dass wir hier jede Wolke – mag sie noch so phantastisch schön geformt sein – innerlich ablehnen, weil sie nicht über unserem Lande hängt, sondern eine deutsche Wolke ist. Heimweh und nochmals Heimweh. Und ob es die französischen Frauen mit ihrem „Paris, Paris“ sind oder die Italiener in ihren südländischen, buntscheckigen Kleidern oder die griechisch-spanischen Juden aus Saloniki: Sie alle denken und ersehnen eines: nach Hause. Nach dem Krieg nach Hause! Und was ist dieses Zuhause? Werden wir aus dieser Lagergemeinschaft überhaupt den Weg zurückfinden in eine Welt, in der die meisten von uns nicht mehr besitzen als die Erinnerung an „Vor dem Kriege“, in der wir mit Menschen zusammenleben müssen, denen unser Erlebnis des Lagerdaseins nichts weiter bedeuten wird als: „Da haben wir wieder so einen, der immer nur über das Verlorene klagt und so grausige Dinge erzählt...“ und wird das Juden-Arier-Problem weiterhin bestehen bleiben? Wird es etwas bleiben, was man als ein Problem betrachtet, etwas, worüber man spricht oder nachdenkt? Können wir‘s heute schon wissen? Vorläufig bedeutet „Friede” für uns: essen, essen, schlafen und dann wieder essen. Brot, Käsebrot, Marmeladebrot. Essen bis zum Sattsein. O säße ich nur erst einmal in Oldenzaal bei der ersten Tasse Kaffee und einem schönen Käsebrot!
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