An die Nachwelt

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07. April 1943
[unbekannt]
Wir wurden beim Grenztor nicht durchgelassen. Bubi und ich wurden auf den Platz der Opfer geführt und waren überzeugt, nicht lebend zurückzukommen. Viele wurden an Ort und Stelle erschossen. Wir flüchteten, und es gelang uns zu entkommen. Ich kam glücklich ins Büro. Dort saß ich nun, und da draußen warteten Tausende auf den Tod. Ach, wie soll ich Euch das schildern? Nachmittags erfuhr ich, dass Mama und Papa auf dem Platze gesehen wurden. Ich musste weiterarbeiten, konnte nicht helfen. Da habe ich geglaubt, verrückt zu werden. Aber man wird nicht verrückt. Dann hörte ich, dass man nichtarbeitende Frauen – also bloß Hausfrauen – nicht herausbekommen konnte. Sollte ich nun trauern und weinen, dass ich meine Mutter verloren oder mich freuen, dass ich noch den geretteten Vater hatte? Ich wusste es nicht. Kann man das noch begreifen? Kann man das noch verstehen? Sollten nicht normalerweise Hirn und Herz platzen? Nun lebten wir ohne Mutter weiter. Die treue, gute Seele, das gute Mutterherz!... Inzwischen kamen die alltäglichen Sorgen und der weitere schwere Kampf ums blöde, sinnlos gewordene Dasein. Man musste wieder übersiedeln, das Ghetto wurde zum anderen Male verkleinert. Denn die Wohnungen der Ermordeten waren doch nun frei geworden. Und – man lebte weiter. Am 5. November war Sonntag. Ganz unverhofft, um 11 Uhr vormittags, wurde das Ghetto umzingelt und der Tanz begann aufs Neue. Ich hatte damals besonderes „Glück“. Ohne von einer Aktion etwas zu ahnen, bin ich sage und schreibe – zehn Minuten bevor das Ghetto umzingelt wurde hinausgegangen. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Verhältnisse. Man wird so abgestumpft. Wenn man von den Allernächsten jemand verlor, reagierte man kaum mehr. Man weinte nicht, man war kein Mensch mehr, ganz aus Stein, ganz ohne Gefühl. Keine Nachricht machte Eindruck. Man ging sogar schon ganz ruhig zum Sterben. Die Leute auf dem Platze waren gleichgültig und ruhig.
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Reiner Text
[unbekannt] 07. April 1943 Wir wurden beim Grenztor nicht durchgelassen. Bubi und ich wurden auf den Platz der Opfer geführt und waren überzeugt, nicht lebend zurückzukommen. Viele wurden an Ort und Stelle erschossen. Wir flüchteten, und es gelang uns zu entkommen. Ich kam glücklich ins Büro. Dort saß ich nun, und da draußen warteten Tausende auf den Tod. Ach, wie soll ich Euch das schildern? Nachmittags erfuhr ich, dass Mama und Papa auf dem Platze gesehen wurden. Ich musste weiterarbeiten, konnte nicht helfen. Da habe ich geglaubt, verrückt zu werden. Aber man wird nicht verrückt. Dann hörte ich, dass man nichtarbeitende Frauen – also bloß Hausfrauen – nicht herausbekommen konnte. Sollte ich nun trauern und weinen, dass ich meine Mutter verloren oder mich freuen, dass ich noch den geretteten Vater hatte? Ich wusste es nicht. Kann man das noch begreifen? Kann man das noch verstehen? Sollten nicht normalerweise Hirn und Herz platzen? Nun lebten wir ohne Mutter weiter. Die treue, gute Seele, das gute Mutterherz!... Inzwischen kamen die alltäglichen Sorgen und der weitere schwere Kampf ums blöde, sinnlos gewordene Dasein. Man musste wieder übersiedeln, das Ghetto wurde zum anderen Male verkleinert. Denn die Wohnungen der Ermordeten waren doch nun frei geworden. Und – man lebte weiter. Am 5. November war Sonntag. Ganz unverhofft, um 11 Uhr vormittags, wurde das Ghetto umzingelt und der Tanz begann aufs Neue. Ich hatte damals besonderes „Glück“. Ohne von einer Aktion etwas zu ahnen, bin ich sage und schreibe – zehn Minuten bevor das Ghetto umzingelt wurde hinausgegangen. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Verhältnisse. Man wird so abgestumpft. Wenn man von den Allernächsten jemand verlor, reagierte man kaum mehr. Man weinte nicht, man war kein Mensch mehr, ganz aus Stein, ganz ohne Gefühl. Keine Nachricht machte Eindruck. Man ging sogar schon ganz ruhig zum Sterben. Die Leute auf dem Platze waren gleichgültig und ruhig.
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