An die Nachwelt

An die Nachwelt

Filter
Random
zurück
Vorwort
Random
Nachwort
Herbst 1945
Willi Weber
Lieber Oskar, Heute erhalte ich über die jüdische Kultusgemeinde in Mährisch-Ostrau Dein an die Witkowitzer Steinkohlengruben gerichtetes Schreiben vom 23. Juni 1945. Vor einigen Tagen erhielt ich auf Grund einer Anfrage von meinem Bruder aus London Deine Adresse, sodass Du auf jeden Fall diesen Brief und das heutige Telegramm von mir erhalten hättest. [...] Aus Deinem kurzen Bericht ist zu entnehmen, dass Du mit Deiner Frau, und ich nehme an Deinen Kindern, wieder beisammen bist und dass es Euch hoffentlich gut geht. Ich will versuchen, Dir chronologisch alles Wissenswerte, vor allem über die Familienangehörigen, zu berichten. Im Herbst 1939 bekam Mama von der Witk. Direktion die Kündigung für Ende des Jahres, die aber innerhalb weniger Stunden dahin richtiggestellt wurde, dass sie schon am nächsten Tage die Erbrichterei verlassen müsse, ohne irgendwelche Schadenersatzansprüche stellen zu können. (Die Originalbriefe dürfte ich irgendwo haben, sodass Du oder Ernst jederzeit Ansprüche an Wackwitz stellen könnt.) Zu diesem Schreiben erhielt sie noch eine Aufforderung der Gestapo, sich sofort dort selbst zu melden, wo ihr über der Vorsprache eröffnet wurde, dass sie abends mit einem kleinen Koffer versehen im Gestapogebäude sich einzufinden habe, da sie nach Polen überstellt werde. Auf Grund unzähliger Interventionen, sogar bei der Gestapo, gelang es mir, durchzusetzen, dass der Abtransport aufgehoben werde. Allerdings bekam Mama am nächsten Tage die Verständigung, sich zwecks Erledigung einiger kleinerer Formalitäten abends im Gestapogebäude einzufinden. Ilse und ich begleiteten Mama dorthin, von wo sie trotz aller unserer Versuche in ein Auto gesetzt und weggeführt wurde. Es war eine der schlimmsten Nächte, die wir mitgemacht haben. Ilse tat nichts anderes, wie mit Gott hadern. Es hat keinen Zweck, wenn ich Dir da nähere Details anführen würde. Du musst Dich mit der kurz angeführten Tatsache begnügen. Am nächsten Vormittag erschien Mama bei uns zu Hause, mit total aufgeweichten Schuhen, durchnässten Kleidern und erzählte Folgendes: Sie wurde in der Nähe von Orlan an der polnischen Grenze abgesetzt, der begleitende Schupo Mann zeigte ihr den Weg, den sie nach Polen einzuschlagen habe, machte sie noch auf die Hochspannungsdrähte und Minenfelder aufmerksam und – weg war er. Mama irrte stundenlang herum, bis sie einem Lichtschein folgend in eine Feldbäckerei kam, wo sich der polnische Inhaber und seine Frau überaus menschlich ihr gegenüber benommen haben. Am nächsten Tage brachte sie ein Kind dieser Familie auf Umwegen an die Ostrau-Krainer Elektrische, mit der sie dann nach Hause kam. Da sie auf Grund des Gestapoerlasses aus Mährisch-Ostrau ausgewiesen war, brachte ich sie am nächsten Tage incl. Muti nach Prag, dort selbst in einer Pension unter, wo sich beide innerhalb weniger Wochen ausgezeichnet erholt haben. In Mährisch-Ostrau begann die Situation immer bräunlicher zu werden, man war in den Straßen seines Lebens nicht mehr sicher gewesen, der Krieg brach aus, ein überaus eifriger Gestapomann vollführte in Ostrau die verschiedensten Sonderaktionen, sodass ich mich eines Tages entschloss, am nächsten Tage mit Ilse, Kind und Wohnungseinrichtung nach Prag zu übersiedeln. In Prag mietete ich eine 3-Zimmer-Wohnung und nahm Mama zu uns. Muti war mittlerweile nach Ostrau zurückgekehrt, wo sie die Leitung des jüdischen Altersheimes übernahm, und bis Mitte 1942 da blieb und verlebten hier noch viele schöne Monate, denn wenn in der Provinz Juden kaum noch zu atmen wagten, waren sie in Prag nur wenigen Einschränkungen ausgesetzt. Im Laufe des 40. und 41. Jahres begann sich vieles zum Nachteil der Juden zu verändern. Die Juden mussten in bestimmten Bezirken ihre eigenen Wohnungen aufgeben und zu anderen Juden nach Prag 1 und 5 ziehen, Geschäfte wurden fortgenommen, Häuser und sonstiger Besitz konfisziert, Bankkontis gesperrt, Schmuck, Pelze, Klaviere, Skischuhe, warme Kleidung u.s.w., alles musste abgegeben werden, Lebensmittelkarten wurden mit „Jude“ bezeichnet, man bekam auch viel weniger als die andern, konnte nur zu bestimmten Stunden einkaufen gehen, durch gewisse Straßen durfte man überhaupt nicht gehen, und im September 1941 musste ein jeder Jude einen 10 cm gelben Zionstern mit der Aufschrift „Jude“ tragen. Im Oktober 1941 begannen die Transporte: als erstes kamen all die von der Kultusgemeinde Unterstützten dran, dann die ganz Reichen, die Advokaten, wie überhaupt die gesamte jüdische Intelligenz. Die Berichte aus den diversen polnischen Ghettis waren fürchterlich und wir taten hier alles, um unseren Leuten durch Zusendung von Lebensmittelpaketen und Geld zu helfen. Für uns, die wir hiergeblieben waren, bestand schon seit dem Jahre 1940 keine Ausreisemöglichkeit mehr. Ich selbst hatte schon im Jahre 1938 mein Palestina Certificate angesucht, welches mir auch bewilligt wurde; da bekam das Palestina-Amt in Prag von unserer Regierung die Verständigung, man möge mit den vorhandenen Certificaten vorerst alle Sudetendeutschen Juden berücksichtigen, sodass unter anderem auch ich im Jahre 1938 zurücktreten musste, allerdings erhielt ich von meinem Freunde und Leiter des P. A. Oskar Karpe und Jankef Edelstein die Zusicherung, dass mit den nächsten Certificaten, das wäre im März 1939, ich und Erwin Sternlicht, mit dem ich gemeinsam nach Erez wollte, automatisch das Certificate erhalten sollten. Anfang März 1939 erlegten Sternlicht, wie auch ich, KČ 120 000 bei der Bank für das Kapitalien Certificate, das wir am 15. März erhalten sollten. Am 15. 3. 1939, das Datum ist doch auch Dir bekannt, erschienen Adolfs Horden, das gesamte P. A. bis auf wenige Ausnahmen fuhr nach Erez Israel, und wir blieben hier. Einige Wochen später kamen wohl einige Certificate, doch kosteten dieselben schon Kč 450 000, die weder Erwin noch ich aufbringen konnten, weshalb wir den gegebenen Umständen entsprechend hierbleiben mussten. Im November 1947 wurde das Ghetto in Theresienstadt errichtet, wohin alle im Protektorat verbliebenen Juden – bis auf wenige Ausnahmen – hinkamen, und auch zum Teil Juden aus Deutschland, Holland, Frankreich, Dänemark u.s.w. Alles in allem kamen nach Theresienstadt, das ca. 4 000 Einwohner gezählt hat, 150 000 Menschen, um von hier nach Polen weiterzugehen. Eine Zeitlang wohnten ca. 65 000 Menschen in Theresienstadt, ca. 30 000 starben in der Zeit in Theresienstadt, ca. 110 000 gingen weiter und 10 000 Menschen überlebten diese schwere Zeit dort. Anfang Februar 1942 bekamen Ilse, Tommy und ich die Einberufung in den Transport. Ilse hatte vorher die ganze Zeit schon bei der soc. Fürsorge der Kultusgemeinde – im Kindergarten – gearbeitet, Tommy, der sich prächtig entwickelte, besuchte die jüdische Volksschule, lernte Violinspielen, wobei er ganz ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, was aber bei seinem 100% Gehör nicht weiter zu verwundern war. Ich selbst arbeitete eine Zeitlang in einer Gärtnerei in der nächsten Umgebung Prags, da ich noch immer mit einer Auswanderung rechnete, denn ich hatte Zusagen nach Argentinien und San Domingo. Theresienstadt hatte eine eigene jüdische Selbstverwaltung; allerdings wurden die leitenden Menschen von den Deutschen eingesetzt und ging alles auch nur nach deutschem Befehl. Judenältester war Jankef Edelstein, im Ältestenrat waren u.a. Ing. Zucker, Ing.Schließer u.s.w., keiner der führenden Menschen hat die Befreiung erlebt. Anfangs war es in Theresienstadt sehr schlimm, denn die arische Bevölkerung wohnte noch dort, während die Juden zusammengepfercht in den vorhandenen Kasernen, Männer und Frauen samt Kindern, separiert untergebracht waren. Man lag anfangs auf Stroh, nachher auf Matratzen und später wurden dann fast überall dreistöckige Kabalets aufgestellt. Es hatte jeder nur ein Anrecht auf 80 cm Lebensraum. Die Verpflegung war fürchterlich. Früh morgens ein schwarzes Gesöff, mittags verfaulte Kartoffeln mit Schweinsrübe und abends wieder irgendein undefinierbares Getränk. Brot wenig, alles andere nur ganz minimal oder überhaupt nicht. In der ersten Zeit kam es sogar vor, dass Männer ihre Frauen durch Wochen weder sehen noch sprechen konnten, da man in den Kasernen eingesperrt war, und man sich nicht frei bewegen konnte. Später mussten die Arier Theresienstadt verlassen und die ganze Stadt wurde in ein Ghetto umgewandelt. Man hatte wohl mehr Bewegungsfreiheit, die Verpflegung blieb nach wie vor schlecht, sodass der größte Teil der 30 000 Toten auf das Konto Hunger zu buchen sind. Am meisten starben wohl alte Menschen, denn die Jungen verstanden es immer wieder, sich in irgendeiner Form zu helfen, auch bekamen die arbeitenden Personen größere Rationen. Vielen gelang es, Kontakt mit der Außenwelt herzustellen und so schwarz Pakete hereinzubekommen. Im Ghetto selbst wurde viel gestohlen, wie überhaupt die Begriffe von Moral sich vollkommen gewandelt hatten. Es war dies eben die Zeit der Hausknechte und der starken Ellenbogen. Nur diese Art von Menschen konnten sich überall durchsetzen. Grauenvoll waren während der ganzen Zeit die mitunter täglich ankommenden Transporte aus all den Ländern, die ich zu Beginn (des Briefes) aufgezählt habe, und noch fürchterlicher die abgehenden Transporte. Wir hatten zwar keine Ahnung, wohin die Transporte gingen, wussten auch nicht, was draußen mit den Menschen geschieht, aber instinktiv hatte man vor dem Ungewissen Angst, ein jeder wehrte sich nach Kräften gegen die Einreihung in die Transporte. Fast niemand gelang es auf Dauer, denn dazu schauten schon die Deutschen, dass nur Leute mit wichtigen Arbeiten verblieben. Zu Jom-Kippur 1942 gingen 10 000 alte Menschen ohne Gepäck fort, Edelstein nannte diesen und alle anderen Transporte die „kalten Pogrome“. Die Transporte dauerten bis Oktober 1944 an. Im Jahre 1944 besserte sich die Situation des Ghettos, denn das Rote Kreuz schien bezüglich Theresienstadt bei den Deutschen vorstellig geworden zu sein und avisierte Kommissionen. Man arbeitete monatelang an der Verschönerung des Stadtbildes und baute mitunter über Nacht „Potemkynsche Dörfer“ auf. Um diese Zeit bewilligten auch die Deutschen die Freizeitgestaltung, die alle Arten von Künstlern beschäftigte, mit denen sie die schönsten Konzerte, Opernaufführungen, Theatervorstellungen, Kabaretts, sportliche Veranstaltungen usw. vollführten. Des Öfteren besuchte man diese Veranstaltungen mit leerem Magen, doch waren diese zumindest so wichtig wie essen. Um jetzt auf uns wieder zurückzukommen. Ilse war im letzten Jahr unseres Prager Aufenthaltes nur noch ein Nervenbündel gewesen, denn das Leben war mehr als schwer, die Arbeit unbefriedigend, und die Aussicht auf ein besseres, ruhigeres Leben gleich Null. Am Tage, an dem wir die Einberufung in den Transport bekamen, ging eine Wandlung mit ihr vor, die bis zum letzten Tage unseres Beisammenseins angehalten hat. Die Gewissheit, im Ghetto mithelfen zu können, machte sie derart sicher und stark, dass sie alles Schwierige mit Leichtigkeit überwand. Gleich bei unserer Ankunft in Theresienstadt meldete sie sich als Krankenpflegerin und übernahm die Leitung einer Kindermarodenstube. Zu Beginn räumte man ihr ein Zimmer mit acht zerbrochenen Betten ohne Matratzen, ohne Bettwäsche, überhaupt ohne jedwede Hilfsmittel ein, da aber auch effektiv nichts vorhanden war. Erst im Laufe der Zeit gelang es ihr, für ihre Stube einen großen Saal mit 26 Betten zu bekommen. Wo immer es nur möglich war, schnorrte oder schleuste – eine Theresienstädter Bezeichnung für, gelinde gesprochen, nehmen – Ilse alle möglichen Sachen, die zur Verschönerung der Krankenstube beitragen. Der Saal wurde von einem Akademischen Maler mit den herrlichsten Märchenmotiven ausgeschmückt, und auch sonst tat sie alles, um den kranken Kindern den Aufenthalt in der Marodenstube so schön wie möglich zu gestalten. Schon immer waren Kinder ihre besondere Vorliebe gewesen, und hier hatte sie ganz große Möglichkeiten der Betätigung. Es gelang ihr auch auf illegalem Wege eine Gitarre zu besorgen, und darin lag eigentlich die hauptsächliche Spitalsbehandlung. In ihrer Krankenstube wurde trotz Verbotes von früh bis abends musiziert und gesungen. Auch auf schriftstellerischem Wege hat Ilse in Theresienstadt m. E. ihren Höhepunkt erreicht. In einfachen Worten hat sie unser Leben und Erleben in Gedichtform festgehalten, die im Laufe der Zeit Gemeingut tausender von Menschen geworden sind. Auch ihre Theresienstädter Volkslieder sind mit zunehmender Begeisterung von den Kindern gesungen worden. Fast allabendlich nach 12-stündiger Arbeitszeit hat Ilse mit der Klampfe und ihren Aufzeichnungen diverse Krankenstuben, Ubikationen usw. aufgesucht und mit ihren Liedern und Gedichten die Menschen auf ein besseres Morgen wieder hoffen lassen. Beiliegend schicke ich Dir einige Gedichte, die vielleicht mehr sagen wie mein ganzer langer Brief. Ich selbst kam mit einem schweren Ischias nach Theresienstadt und konnte daher im ersten Jahr nur in der Kanzlei „Sociale Fürsorge“ tätig sein, später wurde ich zu allen Arbeiten eingesetzt, und im letzten Jahr war ich für die Stadtverschönerung als Gärtner herangezogen worden. Im vorigen Jahr (1944) war ich dann Wächter im schönsten Park von Theresienstadt, mit dem herrlichsten modernsten Kinderspielplatz – Luftschaukel, Ringelspiel, Sandbänke, Liegestätten, Planschbecken mit warmem und kaltem Wasser usw. – alles natürlich für die angesagten Kommissionen. Tommy war überglücklich, wenn er mir beim Aufspießen der Papierschnitzel, bei den diversen Aufräumungsarbeiten, beim Umpflanzen der Blumenbeete, behilflich sein konnte, und besonders stolz war er, wenn er am frühen Morgen mit einem Strauß Blumen, versteckt unter dem Mantel – auch Blumen zu besitzen war im Ghetto verboten – für sein Kinderheim abziehen konnte. Die Kinder waren sich unserer Situation genau bewusst, und ihr Deutschenhass war grenzenlos. Leider mussten wir sie zu Dingen anhalten, die wider alle guten Sitten waren und oft haben wir mit Ilse über die Wiedergutmachungsmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkte gesprochen. Leider war das vollkommen überflüssig, denn wie ihr vielleicht aus den Berichten wissen werdet, sind von den ca. 10 000 deportierten Protectoratskindern alles in allem ca. 30 zurückgekommen. Mama war bis zum Jahre 1942 in Prag geblieben, kam dann überglücklich nach Theresienstadt, wo sie bis zum 17.10.1942 ein für dortige Verhältnisse ziemlich beschauliches Leben führen konnte. Am 18.10. ging sie mit einem 5 000 Transport nach Polen und haben wir von ihr, wie von all den anderen, nie wieder etwas gehört. Mutzi kam im Juli 1942 mit allen Ostrauern, ca. 5 000 an der Zahl, nach Theresienstadt, sie hielt sich hier nur einige Wochen und ging mit fast 98 % der Ostrauer gleichfalls nach Polen. Onkel Gustav war bereits im Herbst 1939 mit der Ostrauer Sonderaction nach Polen gegangen und ist auf seiner Wanderung in der Nähe von Premysl gestorben und begraben worden. Seine Frau, sein Bruder und Frau, die Frommowitsch, Immerglücks, der alte Weiß mit seinem Sohn. – Julka hatte einen Arier geheiratet – und blieb in Ostrau, Tante Johanna war dort mittlerweile gestorben, und viele andere kamen nach Theresienstadt, um gleich allen andern nach Polen weiterzugehen. Auf Deine besonderen Anfragen bin ich bereit ausführlicher zu berichten. (...) Eigenartig ist, dass wenn Menschen noch so sehr von harten Schicksalsschlägen heimgesucht werden, es normalerweise nie der Tod, sondern immer wieder das Leben ist, das sie anzieht. Das Leben geht eben weiter. Heute, nachdem bereits einige Monate verstrichen sind, alles an Härte und Schärfe verloren hat, habe ich nur noch einen Wunsch, dass Ilse damals mit dem Kind von der Bahn in Auschwitz, direkt in die Gaskammer gegangen sein möge, dadurch wäre ihnen viel Leid erspart geblieben, denn Ilse hätte dieses Jammerdasein kaum ertragen.
teilen
Social Media
Link zum Post
https://an-die-nachwelt.de/willi-weber-herbst-1945-dokumentation-7
kopieren
Reiner Text
Willi Weber Herbst 1945 Lieber Oskar, Heute erhalte ich über die jüdische Kultusgemeinde in Mährisch-Ostrau Dein an die Witkowitzer Steinkohlengruben gerichtetes Schreiben vom 23. Juni 1945. Vor einigen Tagen erhielt ich auf Grund einer Anfrage von meinem Bruder aus London Deine Adresse, sodass Du auf jeden Fall diesen Brief und das heutige Telegramm von mir erhalten hättest. [...] Aus Deinem kurzen Bericht ist zu entnehmen, dass Du mit Deiner Frau, und ich nehme an Deinen Kindern, wieder beisammen bist und dass es Euch hoffentlich gut geht. Ich will versuchen, Dir chronologisch alles Wissenswerte, vor allem über die Familienangehörigen, zu berichten. Im Herbst 1939 bekam Mama von der Witk. Direktion die Kündigung für Ende des Jahres, die aber innerhalb weniger Stunden dahin richtiggestellt wurde, dass sie schon am nächsten Tage die Erbrichterei verlassen müsse, ohne irgendwelche Schadenersatzansprüche stellen zu können. (Die Originalbriefe dürfte ich irgendwo haben, sodass Du oder Ernst jederzeit Ansprüche an Wackwitz stellen könnt.) Zu diesem Schreiben erhielt sie noch eine Aufforderung der Gestapo, sich sofort dort selbst zu melden, wo ihr über der Vorsprache eröffnet wurde, dass sie abends mit einem kleinen Koffer versehen im Gestapogebäude sich einzufinden habe, da sie nach Polen überstellt werde. Auf Grund unzähliger Interventionen, sogar bei der Gestapo, gelang es mir, durchzusetzen, dass der Abtransport aufgehoben werde. Allerdings bekam Mama am nächsten Tage die Verständigung, sich zwecks Erledigung einiger kleinerer Formalitäten abends im Gestapogebäude einzufinden. Ilse und ich begleiteten Mama dorthin, von wo sie trotz aller unserer Versuche in ein Auto gesetzt und weggeführt wurde. Es war eine der schlimmsten Nächte, die wir mitgemacht haben. Ilse tat nichts anderes, wie mit Gott hadern. Es hat keinen Zweck, wenn ich Dir da nähere Details anführen würde. Du musst Dich mit der kurz angeführten Tatsache begnügen. Am nächsten Vormittag erschien Mama bei uns zu Hause, mit total aufgeweichten Schuhen, durchnässten Kleidern und erzählte Folgendes: Sie wurde in der Nähe von Orlan an der polnischen Grenze abgesetzt, der begleitende Schupo Mann zeigte ihr den Weg, den sie nach Polen einzuschlagen habe, machte sie noch auf die Hochspannungsdrähte und Minenfelder aufmerksam und – weg war er. Mama irrte stundenlang herum, bis sie einem Lichtschein folgend in eine Feldbäckerei kam, wo sich der polnische Inhaber und seine Frau überaus menschlich ihr gegenüber benommen haben. Am nächsten Tage brachte sie ein Kind dieser Familie auf Umwegen an die Ostrau-Krainer Elektrische, mit der sie dann nach Hause kam. Da sie auf Grund des Gestapoerlasses aus Mährisch-Ostrau ausgewiesen war, brachte ich sie am nächsten Tage incl. Muti nach Prag, dort selbst in einer Pension unter, wo sich beide innerhalb weniger Wochen ausgezeichnet erholt haben. In Mährisch-Ostrau begann die Situation immer bräunlicher zu werden, man war in den Straßen seines Lebens nicht mehr sicher gewesen, der Krieg brach aus, ein überaus eifriger Gestapomann vollführte in Ostrau die verschiedensten Sonderaktionen, sodass ich mich eines Tages entschloss, am nächsten Tage mit Ilse, Kind und Wohnungseinrichtung nach Prag zu übersiedeln. In Prag mietete ich eine 3-Zimmer-Wohnung und nahm Mama zu uns. Muti war mittlerweile nach Ostrau zurückgekehrt, wo sie die Leitung des jüdischen Altersheimes übernahm, und bis Mitte 1942 da blieb und verlebten hier noch viele schöne Monate, denn wenn in der Provinz Juden kaum noch zu atmen wagten, waren sie in Prag nur wenigen Einschränkungen ausgesetzt. Im Laufe des 40. und 41. Jahres begann sich vieles zum Nachteil der Juden zu verändern. Die Juden mussten in bestimmten Bezirken ihre eigenen Wohnungen aufgeben und zu anderen Juden nach Prag 1 und 5 ziehen, Geschäfte wurden fortgenommen, Häuser und sonstiger Besitz konfisziert, Bankkontis gesperrt, Schmuck, Pelze, Klaviere, Skischuhe, warme Kleidung u.s.w., alles musste abgegeben werden, Lebensmittelkarten wurden mit „Jude“ bezeichnet, man bekam auch viel weniger als die andern, konnte nur zu bestimmten Stunden einkaufen gehen, durch gewisse Straßen durfte man überhaupt nicht gehen, und im September 1941 musste ein jeder Jude einen 10 cm gelben Zionstern mit der Aufschrift „Jude“ tragen. Im Oktober 1941 begannen die Transporte: als erstes kamen all die von der Kultusgemeinde Unterstützten dran, dann die ganz Reichen, die Advokaten, wie überhaupt die gesamte jüdische Intelligenz. Die Berichte aus den diversen polnischen Ghettis waren fürchterlich und wir taten hier alles, um unseren Leuten durch Zusendung von Lebensmittelpaketen und Geld zu helfen. Für uns, die wir hiergeblieben waren, bestand schon seit dem Jahre 1940 keine Ausreisemöglichkeit mehr. Ich selbst hatte schon im Jahre 1938 mein Palestina Certificate angesucht, welches mir auch bewilligt wurde; da bekam das Palestina-Amt in Prag von unserer Regierung die Verständigung, man möge mit den vorhandenen Certificaten vorerst alle Sudetendeutschen Juden berücksichtigen, sodass unter anderem auch ich im Jahre 1938 zurücktreten musste, allerdings erhielt ich von meinem Freunde und Leiter des P. A. Oskar Karpe und Jankef Edelstein die Zusicherung, dass mit den nächsten Certificaten, das wäre im März 1939, ich und Erwin Sternlicht, mit dem ich gemeinsam nach Erez wollte, automatisch das Certificate erhalten sollten. Anfang März 1939 erlegten Sternlicht, wie auch ich, KČ 120 000 bei der Bank für das Kapitalien Certificate, das wir am 15. März erhalten sollten. Am 15. 3. 1939, das Datum ist doch auch Dir bekannt, erschienen Adolfs Horden, das gesamte P. A. bis auf wenige Ausnahmen fuhr nach Erez Israel, und wir blieben hier. Einige Wochen später kamen wohl einige Certificate, doch kosteten dieselben schon Kč 450 000, die weder Erwin noch ich aufbringen konnten, weshalb wir den gegebenen Umständen entsprechend hierbleiben mussten. Im November 1947 wurde das Ghetto in Theresienstadt errichtet, wohin alle im Protektorat verbliebenen Juden – bis auf wenige Ausnahmen – hinkamen, und auch zum Teil Juden aus Deutschland, Holland, Frankreich, Dänemark u.s.w. Alles in allem kamen nach Theresienstadt, das ca. 4 000 Einwohner gezählt hat, 150 000 Menschen, um von hier nach Polen weiterzugehen. Eine Zeitlang wohnten ca. 65 000 Menschen in Theresienstadt, ca. 30 000 starben in der Zeit in Theresienstadt, ca. 110 000 gingen weiter und 10 000 Menschen überlebten diese schwere Zeit dort. Anfang Februar 1942 bekamen Ilse, Tommy und ich die Einberufung in den Transport. Ilse hatte vorher die ganze Zeit schon bei der soc. Fürsorge der Kultusgemeinde – im Kindergarten – gearbeitet, Tommy, der sich prächtig entwickelte, besuchte die jüdische Volksschule, lernte Violinspielen, wobei er ganz ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, was aber bei seinem 100% Gehör nicht weiter zu verwundern war. Ich selbst arbeitete eine Zeitlang in einer Gärtnerei in der nächsten Umgebung Prags, da ich noch immer mit einer Auswanderung rechnete, denn ich hatte Zusagen nach Argentinien und San Domingo. Theresienstadt hatte eine eigene jüdische Selbstverwaltung; allerdings wurden die leitenden Menschen von den Deutschen eingesetzt und ging alles auch nur nach deutschem Befehl. Judenältester war Jankef Edelstein, im Ältestenrat waren u.a. Ing. Zucker, Ing.Schließer u.s.w., keiner der führenden Menschen hat die Befreiung erlebt. Anfangs war es in Theresienstadt sehr schlimm, denn die arische Bevölkerung wohnte noch dort, während die Juden zusammengepfercht in den vorhandenen Kasernen, Männer und Frauen samt Kindern, separiert untergebracht waren. Man lag anfangs auf Stroh, nachher auf Matratzen und später wurden dann fast überall dreistöckige Kabalets aufgestellt. Es hatte jeder nur ein Anrecht auf 80 cm Lebensraum. Die Verpflegung war fürchterlich. Früh morgens ein schwarzes Gesöff, mittags verfaulte Kartoffeln mit Schweinsrübe und abends wieder irgendein undefinierbares Getränk. Brot wenig, alles andere nur ganz minimal oder überhaupt nicht. In der ersten Zeit kam es sogar vor, dass Männer ihre Frauen durch Wochen weder sehen noch sprechen konnten, da man in den Kasernen eingesperrt war, und man sich nicht frei bewegen konnte. Später mussten die Arier Theresienstadt verlassen und die ganze Stadt wurde in ein Ghetto umgewandelt. Man hatte wohl mehr Bewegungsfreiheit, die Verpflegung blieb nach wie vor schlecht, sodass der größte Teil der 30 000 Toten auf das Konto Hunger zu buchen sind. Am meisten starben wohl alte Menschen, denn die Jungen verstanden es immer wieder, sich in irgendeiner Form zu helfen, auch bekamen die arbeitenden Personen größere Rationen. Vielen gelang es, Kontakt mit der Außenwelt herzustellen und so schwarz Pakete hereinzubekommen. Im Ghetto selbst wurde viel gestohlen, wie überhaupt die Begriffe von Moral sich vollkommen gewandelt hatten. Es war dies eben die Zeit der Hausknechte und der starken Ellenbogen. Nur diese Art von Menschen konnten sich überall durchsetzen. Grauenvoll waren während der ganzen Zeit die mitunter täglich ankommenden Transporte aus all den Ländern, die ich zu Beginn (des Briefes) aufgezählt habe, und noch fürchterlicher die abgehenden Transporte. Wir hatten zwar keine Ahnung, wohin die Transporte gingen, wussten auch nicht, was draußen mit den Menschen geschieht, aber instinktiv hatte man vor dem Ungewissen Angst, ein jeder wehrte sich nach Kräften gegen die Einreihung in die Transporte. Fast niemand gelang es auf Dauer, denn dazu schauten schon die Deutschen, dass nur Leute mit wichtigen Arbeiten verblieben. Zu Jom-Kippur 1942 gingen 10 000 alte Menschen ohne Gepäck fort, Edelstein nannte diesen und alle anderen Transporte die „kalten Pogrome“. Die Transporte dauerten bis Oktober 1944 an. Im Jahre 1944 besserte sich die Situation des Ghettos, denn das Rote Kreuz schien bezüglich Theresienstadt bei den Deutschen vorstellig geworden zu sein und avisierte Kommissionen. Man arbeitete monatelang an der Verschönerung des Stadtbildes und baute mitunter über Nacht „Potemkynsche Dörfer“ auf. Um diese Zeit bewilligten auch die Deutschen die Freizeitgestaltung, die alle Arten von Künstlern beschäftigte, mit denen sie die schönsten Konzerte, Opernaufführungen, Theatervorstellungen, Kabaretts, sportliche Veranstaltungen usw. vollführten. Des Öfteren besuchte man diese Veranstaltungen mit leerem Magen, doch waren diese zumindest so wichtig wie essen. Um jetzt auf uns wieder zurückzukommen. Ilse war im letzten Jahr unseres Prager Aufenthaltes nur noch ein Nervenbündel gewesen, denn das Leben war mehr als schwer, die Arbeit unbefriedigend, und die Aussicht auf ein besseres, ruhigeres Leben gleich Null. Am Tage, an dem wir die Einberufung in den Transport bekamen, ging eine Wandlung mit ihr vor, die bis zum letzten Tage unseres Beisammenseins angehalten hat. Die Gewissheit, im Ghetto mithelfen zu können, machte sie derart sicher und stark, dass sie alles Schwierige mit Leichtigkeit überwand. Gleich bei unserer Ankunft in Theresienstadt meldete sie sich als Krankenpflegerin und übernahm die Leitung einer Kindermarodenstube. Zu Beginn räumte man ihr ein Zimmer mit acht zerbrochenen Betten ohne Matratzen, ohne Bettwäsche, überhaupt ohne jedwede Hilfsmittel ein, da aber auch effektiv nichts vorhanden war. Erst im Laufe der Zeit gelang es ihr, für ihre Stube einen großen Saal mit 26 Betten zu bekommen. Wo immer es nur möglich war, schnorrte oder schleuste – eine Theresienstädter Bezeichnung für, gelinde gesprochen, nehmen – Ilse alle möglichen Sachen, die zur Verschönerung der Krankenstube beitragen. Der Saal wurde von einem Akademischen Maler mit den herrlichsten Märchenmotiven ausgeschmückt, und auch sonst tat sie alles, um den kranken Kindern den Aufenthalt in der Marodenstube so schön wie möglich zu gestalten. Schon immer waren Kinder ihre besondere Vorliebe gewesen, und hier hatte sie ganz große Möglichkeiten der Betätigung. Es gelang ihr auch auf illegalem Wege eine Gitarre zu besorgen, und darin lag eigentlich die hauptsächliche Spitalsbehandlung. In ihrer Krankenstube wurde trotz Verbotes von früh bis abends musiziert und gesungen. Auch auf schriftstellerischem Wege hat Ilse in Theresienstadt m. E. ihren Höhepunkt erreicht. In einfachen Worten hat sie unser Leben und Erleben in Gedichtform festgehalten, die im Laufe der Zeit Gemeingut tausender von Menschen geworden sind. Auch ihre Theresienstädter Volkslieder sind mit zunehmender Begeisterung von den Kindern gesungen worden. Fast allabendlich nach 12-stündiger Arbeitszeit hat Ilse mit der Klampfe und ihren Aufzeichnungen diverse Krankenstuben, Ubikationen usw. aufgesucht und mit ihren Liedern und Gedichten die Menschen auf ein besseres Morgen wieder hoffen lassen. Beiliegend schicke ich Dir einige Gedichte, die vielleicht mehr sagen wie mein ganzer langer Brief. Ich selbst kam mit einem schweren Ischias nach Theresienstadt und konnte daher im ersten Jahr nur in der Kanzlei „Sociale Fürsorge“ tätig sein, später wurde ich zu allen Arbeiten eingesetzt, und im letzten Jahr war ich für die Stadtverschönerung als Gärtner herangezogen worden. Im vorigen Jahr (1944) war ich dann Wächter im schönsten Park von Theresienstadt, mit dem herrlichsten modernsten Kinderspielplatz – Luftschaukel, Ringelspiel, Sandbänke, Liegestätten, Planschbecken mit warmem und kaltem Wasser usw. – alles natürlich für die angesagten Kommissionen. Tommy war überglücklich, wenn er mir beim Aufspießen der Papierschnitzel, bei den diversen Aufräumungsarbeiten, beim Umpflanzen der Blumenbeete, behilflich sein konnte, und besonders stolz war er, wenn er am frühen Morgen mit einem Strauß Blumen, versteckt unter dem Mantel – auch Blumen zu besitzen war im Ghetto verboten – für sein Kinderheim abziehen konnte. Die Kinder waren sich unserer Situation genau bewusst, und ihr Deutschenhass war grenzenlos. Leider mussten wir sie zu Dingen anhalten, die wider alle guten Sitten waren und oft haben wir mit Ilse über die Wiedergutmachungsmöglichkeiten zu einem späteren Zeitpunkte gesprochen. Leider war das vollkommen überflüssig, denn wie ihr vielleicht aus den Berichten wissen werdet, sind von den ca. 10 000 deportierten Protectoratskindern alles in allem ca. 30 zurückgekommen. Mama war bis zum Jahre 1942 in Prag geblieben, kam dann überglücklich nach Theresienstadt, wo sie bis zum 17.10.1942 ein für dortige Verhältnisse ziemlich beschauliches Leben führen konnte. Am 18.10. ging sie mit einem 5 000 Transport nach Polen und haben wir von ihr, wie von all den anderen, nie wieder etwas gehört. Mutzi kam im Juli 1942 mit allen Ostrauern, ca. 5 000 an der Zahl, nach Theresienstadt, sie hielt sich hier nur einige Wochen und ging mit fast 98 % der Ostrauer gleichfalls nach Polen. Onkel Gustav war bereits im Herbst 1939 mit der Ostrauer Sonderaction nach Polen gegangen und ist auf seiner Wanderung in der Nähe von Premysl gestorben und begraben worden. Seine Frau, sein Bruder und Frau, die Frommowitsch, Immerglücks, der alte Weiß mit seinem Sohn. – Julka hatte einen Arier geheiratet – und blieb in Ostrau, Tante Johanna war dort mittlerweile gestorben, und viele andere kamen nach Theresienstadt, um gleich allen andern nach Polen weiterzugehen. Auf Deine besonderen Anfragen bin ich bereit ausführlicher zu berichten. (...) Eigenartig ist, dass wenn Menschen noch so sehr von harten Schicksalsschlägen heimgesucht werden, es normalerweise nie der Tod, sondern immer wieder das Leben ist, das sie anzieht. Das Leben geht eben weiter. Heute, nachdem bereits einige Monate verstrichen sind, alles an Härte und Schärfe verloren hat, habe ich nur noch einen Wunsch, dass Ilse damals mit dem Kind von der Bahn in Auschwitz, direkt in die Gaskammer gegangen sein möge, dadurch wäre ihnen viel Leid erspart geblieben, denn Ilse hätte dieses Jammerdasein kaum ertragen.
kopieren
Bildatei