An die Nachwelt

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[undatiert]
Witold Pilecki
Ich soll also nur die trockenen Fakten aufschreiben; so wollen es meine Freunde. Sie haben mir gesagt: „Je genauer und kommentarloser du dich an die reinen Fakten hältst, desto wertvoller wird der Bericht.“ Ich will es versuchen. Aber wir sind nicht aus Holz geschnitzt, schon gar nicht aus Stein gemeißelt, obwohl es manchmal war, als ob auch ein Stein angefangen hätte zu schwitzen. Hin und wieder will ich deshalb auch einen Gedanken zwischen die Fakten streuen, der zeigen soll, was man gefühlt hat. Ich glaube nicht, dass dadurch die Beschreibung entwertet wird. Man war ja nicht aus Stein, obwohl ich die Steine oft beneidet habe; man hatte ein schlagendes Herz, oft schlug es bis zum Hals, und immer wieder gingen einem Gedanken durch den Kopf, die ich manchmal nur mit Mühe erfasste… Ich glaube wirklich, dass da und dort ein Satz zu diesen Gedanken nicht fehlen darf, wenn das Bild vollständig sein soll. [...] Wir wurden auf eine größere Gruppe Scheinwerfer zugetrieben. Unterwegs wurde einem von uns befohlen, zu einem Posten am Straßenrand zu laufen; ein kurzer Feuerstoß aus einer automatischen Waffe mähte ihn nieder. Zehn Mann wurden willkürlich aus der Gruppe herausgezerrt und als Kollektivstrafe für den von der SS inszenierten Fluchtversuche mit Pistolen erschossen. Die elf Leichen wurden dann mit Stricken an den Beinen hinterhergeschleift, die Hunde auf die blutigen Körper gehetzt. All das unter Gelächter und Scherzen. Wir kamen zu einem Tor in einem Stacheldrahtzaun, über dem Arbeit macht frei zu lesen stand. Erst später verstand ich, was das bedeutete. […] Beim Appell durfte niemand fehlen. Wenn jemand nicht erschien, nicht weil er ausgebrochen war, sondern weil ein naiver Neuzugang sich versteckt hatte oder jemand einfach verschlafen hatte und die Zahlen nicht zur Häftlingsliste passten, wurde eine Suche eingeleitet, der Betreffende auf den Appellplatz geschleift und fast immer vor aller Augen getötet. Manchmal war ein Häftling auch abwesend, weil er sich irgendwo auf einem Dachboden erhängt hatte, oder einer ging während des Appells in den Draht. Man hörte dann Schüsse von den Wachtürmen, und der Häftling blieb kugeldurchsiebt liegen. Die Zeit, um in den Draht zu gehen, war der Morgen, wenn man die Qualen des Tages vor sich hatte; abends, wenn einige Stunden Erholung vor einem lagen, geschah es seltener. […] Krankenmann war dafür zuständig, die fast täglichen Häftlingszugänge so schnell wie möglich umzubringen. Sein Charakter war für diese Aufgabe besonders gut geeignet. Wenn jemand versehentlich einige Zentimeter zu weit vorne stand, rammte ihm Krankenmann das Messer, das er im rechten Ärmel trug, in den Bauch. Wer davor so viel Angst hatte, dass er zu weit zurückwich, bekam von diesem Mörder einen Messerstich von hinten in die Nieren, während er durch die Reihen lief. Der Anblick des schreiend zusammenbrechenden Häftlings, dessen Beine im Sand scharrten, brachte Krankenmann in Wut. Er sprang dem Mann auf die Brust, trat ihm in die Nieren und in die Genitalien und brachte ihn so schnell wie möglich um, während wir gezwungen waren, schweigend zuzusehen. Der Anblick traf uns wie ein elektrischer Schlag. […] Solche Augenblicke, wenn jemand vor einem umgebracht wurde, nutzte man bedenkenlos aus, wie ein Tier, um ein paar Minuten anzuhalten, etwas Luft zu schöpfen und das rasende Herz zu beruhigen. [...] Bevor ich mich aber dem zuwende, was sich 1941 in Auschwitz ereignete, möchte ich gerne noch einige Bilder aus dem Lagerleben hinzufügen, die ins Jahr 1940 gehören. Die Bestialität der deutschen Mörder, die die degenerierten Instinkte der Ausgestoßenen und manchmal Kriminellen – seit Jahren in Konzentrationslagern inhaftiert – noch unterstrichen, die in Auschwitz unsere Vorgesetzten waren, nahm die verschiedensten Formen an. In der Strafkompanie vergnügten diese Monster sich damit, Männern, hauptsächlich Juden, mit einem Holzhammer auf einem Brett die Hoden zu zerquetschen. Im Industriehof II dressierte ein SS-Mann, der den Spitznamen Perelka (kleine Perle) trug, seinen Schäferhund auf den Mann, indem er ihn auf Häftlinge hetzte. Niemanden störte das. Der Hund stürzte sich auf vorbeilaufende Häftlinge, riss die Geschwächten zu Boden, verbiss sich in sie, riss Stücke aus ihrem Körper, biss ihnen die Hoden ab und brachte sie durch Biss in die Kehle um. […] Neben der Grube standen drei SS-Männer, die sich wohl nicht trauten, sich zu entfernen, weil sie vor Palitzsch oder dem Lagerkommandanten Angst hatten, der an diesem Tag im Lager herumschnüffelte. Also hatten sie sich ein Spiel ausgedacht. Sie besprachen offensichtlich etwas, und alle drei legten Geldscheine auf einen Ziegel. Dann begruben sie einen der Häftlinge kopfüber bis zu den Hüften im Sand und schauten auf die Uhr, wie lange seine Beine noch strampelten. Eine neue Art Sportwette, dachte ich mir. Offenbar kassierte derjenige SS-Mann den Einsatz, der am genauesten voraussagte, wie lange der Häftling seine Beine noch bewegen konnte, bevor er starb. So endete das Jahr 1940. […] Ein anderes Mal war von Block 12 aus eine Familie zu sehen, die an der Klagemauer stand. Zuerst erschoss Palitzsch den Vater vor den Augen seiner Frau und der beiden Kinder. Dann erschoss er das kleine Mädchen, das sich an die Hand seiner bleichen Mutter klammerte. Danach entriss er der Mutter den Säugling, den sie an ihre Brust presste. Er packte ihn an den Beinen und zerschmetterte sein Köpfchen an der Mauer. Dann erschoss er die Mutter, die vor Schmerz kaum noch bei Bewusstsein war. Dieser Vorfall wurde mir von mehreren Freunden, die Augenzeugen waren, genau identisch erzählt, so dass ich nicht daran zweifeln kann, dass dies wirklich geschehen ist. […] Nicht alle kämpften. Manche waren bewusstlos, andere stöhnten nur vor sich hin, wieder andere waren zu schwach. Neben mir lag ein bewusstloser älterer Insasse (aus dem Bergland). Sein Gesicht, wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt, werde ich nie vergessen können: Es war eine einzige Kruste bewegungsloser Läuse, die sich in seine Haut verbissen hatten. Der Häftling links von mir (Narkun) war gestorben. Man hatte ihm die Decke über den Kopf gezogen, die Bahrenträger würden bald kommen. Die Läuse auf seiner Decke merkten, was los war, und machten sich in meine Richtung auf. […] Die Transporte aus Warschau bekamen die ganze Härte des Lagers zu spüren; die Häftlinge wurden genauso geschlagen wie wir zu Anfang und starben zuhauf, täglich weiter von Kälte und brutaler Behandlung dezimiert. Seit dem Frühling 1941 gab es eine Neuerung im Lager: das Orchester. Der Lagerkommandant war Musikfreund, was dazu führte, dass im Lager aus den dort reichlich vorhandenen guten Musikern – man fand jeden Beruf im Lager reichlich vertreten – ein Orchester aufgestellt wurde. Als Musiker im Orchester hatte man eine gute Arbeit, deshalb ließ jeder, der zu Hause ein Instrument hatte, es sich sofort ins Lager schicken und meldete sich im Orchester an. Unter dem Knüppel des ehemaligen Küchenkapos Franz (Franciszek Nierychlo) wurden dann alle möglichen Kompositionen aufgeführt. Es war wirklich ein gutes Orchester, der Stolz des Kommandanten. Wenn ein bestimmtes Instrument nicht besetzt werden konnte, fand sich leicht ein Spezialist dafür, den man verhaften und ins Lager schaffen lassen konnte. Nicht nur der Kommandant, sondern auch die Kommissionen, die das Lager von Zeit zu Zeit inspizierten, waren begeistert. Für uns spielte das Orchester viermal täglich. Morgens, wenn wir zur Arbeit zogen, bei der Rückkehr zum Mittagessen, beim erneuten Ausrücken nach dem Mittagessen und bei der Rückkehr zum Abendappell. Die Bühne befand sich vor Block 9 (alte Nummerierung) nahe dem Tor, durch das die Arbeitskommandos marschierten. Das Grauen dieser Szene wurde einem so richtig deutlich, wenn die Kommandos abends einrückten. Die Marschkolonnen schleppten die Leichen ihrer Kameraden mit, die bei der Arbeit getötet worden waren. Manche der Toten sahen fürchterlich aus. Zum Takt schwungvoller Märsche, die extra schnell gespielt werden mussten, sodass sie mehr wie Polkas oder Volkstänze denn Militärmärsche klangen, wankten die zusammengesunkenen, erschöpften Gestalten durch das Tor. Sie versuchten krampfhaft im Tritt zu bleiben, und schleppten dabei die Leichen ihrer Kameraden, deren Leiber bereits mehrere Kilometer weit über gefrorenen Boden, durch Matsch und über Steine geschleift worden waren, wodurch sie teilweise entkleidet worden waren. Diese Marschkolonnen, ein Bild menschlichen Elends, waren von einem Ring aus Einpeitschern und Antreibern umgeben, die mit Schlagstöcken auf die Marschierenden einprügelten und sie zwangen, im Takt zu bleiben. Wer aus dem Tritt kam, bekam den Knüppel über den Kopf und wurde kurz darauf selbst von den Kameraden mitgeschleift. […] Das also waren die Geschehnisse, die, wie ich geschrieben habe, „nicht von dieser Welt“ waren. „Was meinen Sie denn? Die Kultur... das 20. Jahrhundert... und da werden so einfach Menschen umgebracht? Und selbst wenn – so einfach kommt man damit heute nicht mehr davon!“ Offensichtlich (obwohl wir doch im zivilisierten 20. Jahrhundert leben) schaffen es diese Angehörigen einer hochentwickelten Kulturnation eben doch, mit einem Krieg davonzukommen. und ihn sogar durch Notwendigkeit zu rechtfertigen. Und siehe da. Auf einmal wird sogar der Krieg, in den Gesprächen zivilisierter Menschen, „unvermeidlich und notwendig”. Einverstanden, aber bis jetzt war, weil das Ermorden einer Gruppe im Interesse einer anderen möglichst kontrolliert geschehen sollte, das gegenseitige Töten immer einem bestimmten Zweig der Gesellschaft vorbehalten: dem Militär. Ja, es muss einmal so gewesen sein. Aber das ist jetzt leider Vergangenheit – eine bessere Zeit als unsere. Wie soll die Menschheit sich heute rechtfertigen – diese Menschheit, die doch auf ihren kulturellen und individuellen Fortschritt so stolz ist und das 20. Jahrhundert weit über alle anderen stellt? Können wir Menschen des 20. Jahrhunderts unseren Vorfahren in die Augen schauen und – es klingt lächerlich – beweisen, dass wir eine höhere kulturelle Stufe erreicht haben? Denn heute ist es so weit gekommen, dass der bewaffnete Arm einer Nation nicht mehr die Armee des Feindes vernichtet. Alle Grenzen der Vergangenheit sind weggewischt, und jetzt geht es unter Einsatz der neuesten Technik gegen ganze Nationen und Gesellschaften wehrloser Zivilisten. Fortschritte der Zivilisation – unbestreitbar! Kultureller Fortschritt? – Dass ich nicht lache! Aber ich schweife ab, meine Freunde, ich schweife sehr weit ab. Schlimmer ist noch, dass es ohnehin keine Worte gibt, um es zu beschreiben… Ich würde gerne sagen, dass wir zu Tieren geworden seien ... Aber nein, wir sind noch viel schlimmer als Tiere! Ich habe ein Recht, das alles zu sagen, angesichts dessen, was ich gesehen habe, und angesichts dessen, was im folgenden Jahr in Auschwitz beginnen sollte.
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Witold Pilecki [undatiert] Ich soll also nur die trockenen Fakten aufschreiben; so wollen es meine Freunde. Sie haben mir gesagt: „Je genauer und kommentarloser du dich an die reinen Fakten hältst, desto wertvoller wird der Bericht.“ Ich will es versuchen. Aber wir sind nicht aus Holz geschnitzt, schon gar nicht aus Stein gemeißelt, obwohl es manchmal war, als ob auch ein Stein angefangen hätte zu schwitzen. Hin und wieder will ich deshalb auch einen Gedanken zwischen die Fakten streuen, der zeigen soll, was man gefühlt hat. Ich glaube nicht, dass dadurch die Beschreibung entwertet wird. Man war ja nicht aus Stein, obwohl ich die Steine oft beneidet habe; man hatte ein schlagendes Herz, oft schlug es bis zum Hals, und immer wieder gingen einem Gedanken durch den Kopf, die ich manchmal nur mit Mühe erfasste… Ich glaube wirklich, dass da und dort ein Satz zu diesen Gedanken nicht fehlen darf, wenn das Bild vollständig sein soll. [...] Wir wurden auf eine größere Gruppe Scheinwerfer zugetrieben. Unterwegs wurde einem von uns befohlen, zu einem Posten am Straßenrand zu laufen; ein kurzer Feuerstoß aus einer automatischen Waffe mähte ihn nieder. Zehn Mann wurden willkürlich aus der Gruppe herausgezerrt und als Kollektivstrafe für den von der SS inszenierten Fluchtversuche mit Pistolen erschossen. Die elf Leichen wurden dann mit Stricken an den Beinen hinterhergeschleift, die Hunde auf die blutigen Körper gehetzt. All das unter Gelächter und Scherzen. Wir kamen zu einem Tor in einem Stacheldrahtzaun, über dem Arbeit macht frei zu lesen stand. Erst später verstand ich, was das bedeutete. […] Beim Appell durfte niemand fehlen. Wenn jemand nicht erschien, nicht weil er ausgebrochen war, sondern weil ein naiver Neuzugang sich versteckt hatte oder jemand einfach verschlafen hatte und die Zahlen nicht zur Häftlingsliste passten, wurde eine Suche eingeleitet, der Betreffende auf den Appellplatz geschleift und fast immer vor aller Augen getötet. Manchmal war ein Häftling auch abwesend, weil er sich irgendwo auf einem Dachboden erhängt hatte, oder einer ging während des Appells in den Draht. Man hörte dann Schüsse von den Wachtürmen, und der Häftling blieb kugeldurchsiebt liegen. Die Zeit, um in den Draht zu gehen, war der Morgen, wenn man die Qualen des Tages vor sich hatte; abends, wenn einige Stunden Erholung vor einem lagen, geschah es seltener. […] Krankenmann war dafür zuständig, die fast täglichen Häftlingszugänge so schnell wie möglich umzubringen. Sein Charakter war für diese Aufgabe besonders gut geeignet. Wenn jemand versehentlich einige Zentimeter zu weit vorne stand, rammte ihm Krankenmann das Messer, das er im rechten Ärmel trug, in den Bauch. Wer davor so viel Angst hatte, dass er zu weit zurückwich, bekam von diesem Mörder einen Messerstich von hinten in die Nieren, während er durch die Reihen lief. Der Anblick des schreiend zusammenbrechenden Häftlings, dessen Beine im Sand scharrten, brachte Krankenmann in Wut. Er sprang dem Mann auf die Brust, trat ihm in die Nieren und in die Genitalien und brachte ihn so schnell wie möglich um, während wir gezwungen waren, schweigend zuzusehen. Der Anblick traf uns wie ein elektrischer Schlag. […] Solche Augenblicke, wenn jemand vor einem umgebracht wurde, nutzte man bedenkenlos aus, wie ein Tier, um ein paar Minuten anzuhalten, etwas Luft zu schöpfen und das rasende Herz zu beruhigen. [...] Bevor ich mich aber dem zuwende, was sich 1941 in Auschwitz ereignete, möchte ich gerne noch einige Bilder aus dem Lagerleben hinzufügen, die ins Jahr 1940 gehören. Die Bestialität der deutschen Mörder, die die degenerierten Instinkte der Ausgestoßenen und manchmal Kriminellen – seit Jahren in Konzentrationslagern inhaftiert – noch unterstrichen, die in Auschwitz unsere Vorgesetzten waren, nahm die verschiedensten Formen an. In der Strafkompanie vergnügten diese Monster sich damit, Männern, hauptsächlich Juden, mit einem Holzhammer auf einem Brett die Hoden zu zerquetschen. Im Industriehof II dressierte ein SS-Mann, der den Spitznamen Perelka (kleine Perle) trug, seinen Schäferhund auf den Mann, indem er ihn auf Häftlinge hetzte. Niemanden störte das. Der Hund stürzte sich auf vorbeilaufende Häftlinge, riss die Geschwächten zu Boden, verbiss sich in sie, riss Stücke aus ihrem Körper, biss ihnen die Hoden ab und brachte sie durch Biss in die Kehle um. […] Neben der Grube standen drei SS-Männer, die sich wohl nicht trauten, sich zu entfernen, weil sie vor Palitzsch oder dem Lagerkommandanten Angst hatten, der an diesem Tag im Lager herumschnüffelte. Also hatten sie sich ein Spiel ausgedacht. Sie besprachen offensichtlich etwas, und alle drei legten Geldscheine auf einen Ziegel. Dann begruben sie einen der Häftlinge kopfüber bis zu den Hüften im Sand und schauten auf die Uhr, wie lange seine Beine noch strampelten. Eine neue Art Sportwette, dachte ich mir. Offenbar kassierte derjenige SS-Mann den Einsatz, der am genauesten voraussagte, wie lange der Häftling seine Beine noch bewegen konnte, bevor er starb. So endete das Jahr 1940. […] Ein anderes Mal war von Block 12 aus eine Familie zu sehen, die an der Klagemauer stand. Zuerst erschoss Palitzsch den Vater vor den Augen seiner Frau und der beiden Kinder. Dann erschoss er das kleine Mädchen, das sich an die Hand seiner bleichen Mutter klammerte. Danach entriss er der Mutter den Säugling, den sie an ihre Brust presste. Er packte ihn an den Beinen und zerschmetterte sein Köpfchen an der Mauer. Dann erschoss er die Mutter, die vor Schmerz kaum noch bei Bewusstsein war. Dieser Vorfall wurde mir von mehreren Freunden, die Augenzeugen waren, genau identisch erzählt, so dass ich nicht daran zweifeln kann, dass dies wirklich geschehen ist. […] Nicht alle kämpften. Manche waren bewusstlos, andere stöhnten nur vor sich hin, wieder andere waren zu schwach. Neben mir lag ein bewusstloser älterer Insasse (aus dem Bergland). Sein Gesicht, wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt, werde ich nie vergessen können: Es war eine einzige Kruste bewegungsloser Läuse, die sich in seine Haut verbissen hatten. Der Häftling links von mir (Narkun) war gestorben. Man hatte ihm die Decke über den Kopf gezogen, die Bahrenträger würden bald kommen. Die Läuse auf seiner Decke merkten, was los war, und machten sich in meine Richtung auf. […] Die Transporte aus Warschau bekamen die ganze Härte des Lagers zu spüren; die Häftlinge wurden genauso geschlagen wie wir zu Anfang und starben zuhauf, täglich weiter von Kälte und brutaler Behandlung dezimiert. Seit dem Frühling 1941 gab es eine Neuerung im Lager: das Orchester. Der Lagerkommandant war Musikfreund, was dazu führte, dass im Lager aus den dort reichlich vorhandenen guten Musikern – man fand jeden Beruf im Lager reichlich vertreten – ein Orchester aufgestellt wurde. Als Musiker im Orchester hatte man eine gute Arbeit, deshalb ließ jeder, der zu Hause ein Instrument hatte, es sich sofort ins Lager schicken und meldete sich im Orchester an. Unter dem Knüppel des ehemaligen Küchenkapos Franz (Franciszek Nierychlo) wurden dann alle möglichen Kompositionen aufgeführt. Es war wirklich ein gutes Orchester, der Stolz des Kommandanten. Wenn ein bestimmtes Instrument nicht besetzt werden konnte, fand sich leicht ein Spezialist dafür, den man verhaften und ins Lager schaffen lassen konnte. Nicht nur der Kommandant, sondern auch die Kommissionen, die das Lager von Zeit zu Zeit inspizierten, waren begeistert. Für uns spielte das Orchester viermal täglich. Morgens, wenn wir zur Arbeit zogen, bei der Rückkehr zum Mittagessen, beim erneuten Ausrücken nach dem Mittagessen und bei der Rückkehr zum Abendappell. Die Bühne befand sich vor Block 9 (alte Nummerierung) nahe dem Tor, durch das die Arbeitskommandos marschierten. Das Grauen dieser Szene wurde einem so richtig deutlich, wenn die Kommandos abends einrückten. Die Marschkolonnen schleppten die Leichen ihrer Kameraden mit, die bei der Arbeit getötet worden waren. Manche der Toten sahen fürchterlich aus. Zum Takt schwungvoller Märsche, die extra schnell gespielt werden mussten, sodass sie mehr wie Polkas oder Volkstänze denn Militärmärsche klangen, wankten die zusammengesunkenen, erschöpften Gestalten durch das Tor. Sie versuchten krampfhaft im Tritt zu bleiben, und schleppten dabei die Leichen ihrer Kameraden, deren Leiber bereits mehrere Kilometer weit über gefrorenen Boden, durch Matsch und über Steine geschleift worden waren, wodurch sie teilweise entkleidet worden waren. Diese Marschkolonnen, ein Bild menschlichen Elends, waren von einem Ring aus Einpeitschern und Antreibern umgeben, die mit Schlagstöcken auf die Marschierenden einprügelten und sie zwangen, im Takt zu bleiben. Wer aus dem Tritt kam, bekam den Knüppel über den Kopf und wurde kurz darauf selbst von den Kameraden mitgeschleift. […] Das also waren die Geschehnisse, die, wie ich geschrieben habe, „nicht von dieser Welt“ waren. „Was meinen Sie denn? Die Kultur... das 20. Jahrhundert... und da werden so einfach Menschen umgebracht? Und selbst wenn – so einfach kommt man damit heute nicht mehr davon!“ Offensichtlich (obwohl wir doch im zivilisierten 20. Jahrhundert leben) schaffen es diese Angehörigen einer hochentwickelten Kulturnation eben doch, mit einem Krieg davonzukommen. und ihn sogar durch Notwendigkeit zu rechtfertigen. Und siehe da. Auf einmal wird sogar der Krieg, in den Gesprächen zivilisierter Menschen, „unvermeidlich und notwendig”. Einverstanden, aber bis jetzt war, weil das Ermorden einer Gruppe im Interesse einer anderen möglichst kontrolliert geschehen sollte, das gegenseitige Töten immer einem bestimmten Zweig der Gesellschaft vorbehalten: dem Militär. Ja, es muss einmal so gewesen sein. Aber das ist jetzt leider Vergangenheit – eine bessere Zeit als unsere. Wie soll die Menschheit sich heute rechtfertigen – diese Menschheit, die doch auf ihren kulturellen und individuellen Fortschritt so stolz ist und das 20. Jahrhundert weit über alle anderen stellt? Können wir Menschen des 20. Jahrhunderts unseren Vorfahren in die Augen schauen und – es klingt lächerlich – beweisen, dass wir eine höhere kulturelle Stufe erreicht haben? Denn heute ist es so weit gekommen, dass der bewaffnete Arm einer Nation nicht mehr die Armee des Feindes vernichtet. Alle Grenzen der Vergangenheit sind weggewischt, und jetzt geht es unter Einsatz der neuesten Technik gegen ganze Nationen und Gesellschaften wehrloser Zivilisten. Fortschritte der Zivilisation – unbestreitbar! Kultureller Fortschritt? – Dass ich nicht lache! Aber ich schweife ab, meine Freunde, ich schweife sehr weit ab. Schlimmer ist noch, dass es ohnehin keine Worte gibt, um es zu beschreiben… Ich würde gerne sagen, dass wir zu Tieren geworden seien ... Aber nein, wir sind noch viel schlimmer als Tiere! Ich habe ein Recht, das alles zu sagen, angesichts dessen, was ich gesehen habe, und angesichts dessen, was im folgenden Jahr in Auschwitz beginnen sollte.
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